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Israels Präsident Reuven Rivlin (Mitte) hat sich gleich nach der Wahl für eine Einheitsregierung von Netanjahus (links) Likud und Gantz' Liste Blau-Weiß ausgesprochen.

Foto: Reuters / Ronen Zvulun

Isreals Präsident Reuven Rivlin hat den rechtskonservativen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu am Mittwochabend erneut mit der Regierungsbildung beauftragt. Netanjahus Likud hat zwar bei der Wahl mit 32 Mandaten einen Sitz weniger als sein Herausforderer Benny Gantz vom Blau-Weiß-Bündnis bekommen. Insgesamt haben ihn aber 55 Abgeordnete für das Amt des Regierungschefs empfohlen – eine Stimme mehr, als Gantz erhielt. Weder Netanjahus rechts-religiöses Lager noch der Mitte-links-Block haben eine Mehrheit im Parlament.

Bereits nach der Wahl im April war der Versuch gescheitert, eine Koalition zu bilden. Die Gespräche sollen auch diesmal schwierig verlaufen sein. Scheitert Netanjahu, ist Gantz am Zug. Der hatte im Vorfeld erklärt, den Auftrag zur Regierungsbildung ohnehin lieber nach Netanjahu er erhalten. Er hofft auf ein Scheitern des derzeitigen Premiers – und darauf, dann möglicherweise ohne Netanjahu eine Verständigung mit dem Likud zu erreichen. Die Möglichkeit einer dritten Wahl steht also erneut im Raum, sagt der israelische Politiker und Autor Avraham Burg.

STANDARD: Wie lautet Ihre Analyse der jüngsten Wahlen?

Burg: Einerseits macht der Ausgang absolut Sinn, andererseits überhaupt nicht. Israel ist eine solide Demokratie, die Wirtschaftslage ist relativ gut, die Sicherheitslage ebenso, kurz: Die Ausgangslage ist gut, dennoch folgt Wahl auf Wahl. Das hat drei Gründe: Die Amtszeiten der Exekutive sind nicht limitiert, die Israelis sind Netanjahus müde. Zweitens herrscht das Gefühl vor, dass Netanjahu das politische System zu seinem Vorteil nutzt, sei es aus rechtlichen Gründen oder wegen des Status. So färbt seine persönliche Instabilität aufs Politische ab. Drittens: Wir leben in einer Welt, wo – in den USA, in Deutschland und Österreich – solide Demokratien nicht mehr solide erscheinen.

STANDARD: Sie haben die Atmosphäre des Wahlkampfs als verrückte Netanjahu-Atmosphäre bezeichnet. Warum?

Burg: Netanjahu ist ein sehr interessanter Charakter. Wenn man ihn mit Donald Trump vergleicht: Der war schon ein Clown, bevor er Präsident war. Boris Johnson war bereits zuvor eigenwillig. Beide wurden gewählt, eben weil sie anders sind. Netanjahu war gewissermaßen normal. Ich mag ihn nicht, aber aus rein analytischer Sicht entsprach er einer soliden, konservativen Tradition. Aus ihm wurde plötzlich ein Populist. Netanjahu als politische Figur 2019 ist nicht der Netanjahu von 2009.

Foto: Der Standard/Andy Urban

STANDARD: Auch weil die Nähe zu den Religiösen zu groß wurde?

Burg: Die Ultraorthodoxen gehören zum realen politischen Kontext, weniger zur persönlichen Transformation Netanjahus. Weil sie oft Mehrheiten verschafft haben. Sie haben auch immer als Machtausgleich zwischen rechts und links gedient. Und immer wenn sie zu viel Macht an sich reißen wollten, wachte der dösende säkulare Riese auf und drängte die Religiösen zurück. Aber in den vergangenen Jahren haben die Ultraorthodoxen einen signifikanten Schritt gemacht: Früher ging es ihnen um ihre Angelegenheiten. Inzwischen haben sie sich komplett auf Netanjahus Seite geschlagen. Und sie greifen mit einigen ihrer Positionen inzwischen sehr wohl in das Leben anderer ein. Bei der zweiten Wahl ging es nicht nur um Netanjahu, sondern auch um eine Neudefinition des Verhältnisses von Kirche und Staat.

STANDARD: Wie konnte sich ausgerechnet der Ultranationalist Avigdor Lieberman zum Kämpfer für die säkulare Sache stilisieren?

Burg: Er ist äußerst klug und hat als Erster die politische Landkarte richtig gelesen. Er hat sich an die Spitze der jüdisch-nationalistischen, aber nicht religiösen Bewegung gestellt und so seine Macht binnen vier Monaten verdoppelt. Das war bestimmt nicht seine letzte Verwandlung.

STANDARD: Wie stehen die Chancen für die sogenannte Regierung der nationalen Einheit?

Burg: Unsere Politiker sind kreativ. Das sieht man schon daran, dass sie die Regierung einer geteilten Nation als nationale Einheit bezeichnen. Ich gehe von dritten Wahlen aus. Verhindert werden können diese nur, wenn Netanjahu sein Ego beiseiteschiebt oder wenn Gantz sein Ego entdeckt.

STANDARD: Selbst wenn Netanjahu und Gantz die Bildung einer Koalition gelingt: Ist das nicht in jedem Fall das Ende der Ära, in der er die wichtigste politische Figur darstellt? Einmal abgesehen von den Korruptionsvorwürfen gegen ihn.

Burg: Ich habe Netanjahus Ende in den vergangenen zwölf Jahren bereits viermal vorhergesagt und bin daher mit dieser Prognose etwas zurückhaltender geworden. Sein Ende zieht sich schon sehr lange hin. Die Israelis haben niemandem klar die Mehrheit verpasst. Wir leben also in einer Welt zweier großer Minderheiten.

STANDARD: Die Lage der Palästinenser scheint komplett vom Tisch zu sein. Wird die nächste Regierung jene sein, die die Zweistaatenlösung offiziell aufgibt?

Burg: Ich glaube, die Zweistaatenlösung ist tot. Ich sehe nicht, wie sie noch umgesetzt werden könnte mit den bestehenden Siedlungen, der Ausweitung des israelischen Einflusses, der relativen Schwäche der Palästinenser, mit dem kompletten Desinteresse der arabischen Welt an den Palästinensern, mit einem vor allem mit sich selbst beschäftigten Europa, den Millionen Flüchtlingen aus Syrien und mehr Millionen Flüchtlingen, wenn die Türkei die Schleusen öffnet, mit der völlig unklaren Politik in den USA. Je mehr Zeit vergeht, desto weniger Chancen dafür sehe ich. Die Frage lautet inzwischen, was für eine Ein-Staat-Lösung wir haben wollen: einen Staat, in dem Juden alle Privilegien und Palästinenser gar keine genießen? Oder so einen, wie er mir vorschwebt, in dem jeder Bürger dieselben Rechte hat?

STANDARD: Sie sind 1988 als Sozialdemokrat in die Knesset gezogen, waren für Organisationen wie Peace Now aktiv und sind 2015 der jüdisch-arabischen Hadash-Partei beigetreten. Wie viel Platz ist heute in Israel für Politiker wie Sie?

Burg: Hadash ist die einzige Partei, die jene arabisch-jüdische Zusammenarbeit anbietet, an die ich glaube. 2015, als sie zur Vereinten Liste dazustieß, habe ich mich schon gefragt, ob ich bleiben soll, denn: Habe ich jüdischen Nationalisten den Rücken gekehrt, um mich mit arabischen Nationalisten zusammenzuschließen? Die Liste ist nicht einfach, ich unterstütze vieles nicht, aber meine Wahlentscheidung basiert auf meinem Verständnis jüdischer Identität: Wenn meine Regierung gegen Minderheiten vorgeht, stehe ich auf der Seite der Minderheiten. Bei allen Unterschieden: So wie die Menschen in Wien 1938 auf der Seite der Minderheit hätten stehen müssen, so stehe ich 2019 auf der Seite der Minderheit.

STANDARD: Die Arabische Liste hat erstmals seit 27 Jahren eine Wahlempfehlung abgegeben. War das im Sinne Ihrer Wähler?

Burg: Bei vielen kam der Schritt nicht gut an, ich fand ihn sehr gut. Die Mehrheit der Araber will in die israelische Politik integriert werden. Sie haben realisiert, dass in der Knesset 107 jüdische Abgeordnete am echten Spiel teilnehmen, während 13 arabische ihr eigenes Ghetto-Parlament haben – ohne irgendeinen Einfluss. Der Schritt war der Versuch, dieses Ghetto zu verlassen.

Foto: Der Standard/Andy Urban

STANDARD: Zurück zur jüdischen Identität: Sie haben dafür plädiert, dass Juden einen ausländischen Pass beantragen sollen, so ihnen einer zusteht. Und dass sin Europa bleiben sollen statt nach Israel zu ziehen. Warum?

Burg: Die jüdische Identität ist in ihrer Geschichte wie eine zweigeteilte Persönlichkeit: Ein Teil dieser Persönlichkeit sehnte sich immer nach einem Fleck Land – Israel –, der andere hingegen fühlte sich einem globalen, universalistischen, humanistischen Bestreben zugehörig. In Wien etwa lebten Theodor Herzl, der die jüdische Existenz auf ein Stück Land eingrenzen wollten, aber auch weltoffene Geister wie Sigmund Freud. Oft frage ich mich, was wäre wohl passiert, wenn Herzl im Wien des 20. Jahrhunderts an der Tür Freuds geklopft und ihm gesagt hätte: Freud, ich habe einen Traum!

Seit dem Holocaust beziehungsweise wegen des Holocausts und mit der Gründung des Staates Israel ist der global ausgerichtete Teil kleiner geworden, er tritt zurückhaltender auf. In erster Linie ging um den Platz dort, um Israel. Der Ort selbst, mit all seinen Probleme, ist meiner Meinung nach gesichert. Es ist ein Staat unter vielen. Daher plädiere ich dafür, die universalistische Dimension des Judentums wieder zu stärken.

STANDARD: Was meinen Sie konkret damit?

Burg: Israel spielt in vielen Fällen die jüdische Zugehörigkeit gegen die Unterstützung für Israel aus. Ich möchte dieser dualen Loyalität beziehungsweise der Manipulation dieser dualen Loyalität eine duale Verantwortung gegenüberstellen. Ich bin nicht nur verantwortlich dafür, was in meinem Viertel in Jerusalem passiert, sondern etwa als Franzose auch dafür, was in Frankreich passiert. Ich bin Teil der Familie der Nationen, kein Paria der Gemeinschaft.

STANDARD: Viele Europäer jüdischen Glaubens sind in den vergangenen Jahren nach Israel gezogen, weil sie wachsenden Antisemitismus in Europa beklagen?

Burg: Antisemitismus ist nicht verschwunden, er ist noch immer da. Sieht er anders aus? Ja. Sie haben uns gehasst vor 70 Jahren, vor 150, vor 1000 Jahren. Wer wurde so gehasst wie wir? Niemand, wir Juden hatten stets ein Monopol, wenn es um Hass geht. Dieser Tage aber gibt es Hass gegen alles mögliche: Xenophobie, Islamophobie, Homophobie. Man kann sich von einem freien Markt an Hass bedienen Als Jude frage ich mich mit meiner historischen Erfahrung: Muss ich als Jude nicht darauf bestehen, den Hass gegen Juden nicht mit dem Hass gegen andere zu vermischen, weil der Hass gegen Juden einzigartig ist, wie Netanjahu es tut? Oder wollen wir Juden lieber Partner sein in einer Koalition gegen Hass? Wenn Juden hier die FPÖ unterstützen, weil die FPÖ die Juden liebt, aber nur, weil Juden Muslime hassen, dann entgegne ich: Nicht mit mir! Nicht in meinem Namen. Wer dieser Tage Europa verlässt, rennt vor einer Verantwortung weg.

STANDARD: Die FPÖ war recht erfolgreich damit, neue Bande zu knüpfen nach Israel.

Burg: Jetzt muss ich schon wieder ein Versagen meinerseits vorwegschicken: 2007 habe ein Buch veröffentlicht, "Hitler besiegen" (Burg beschreibt den Holocaust als ultimatives Trauma, das, wie er schreibt, benützt wird, um israelisches Unrecht zu legitimieren, Anm.). Ich habe beim Schreiben im Hinterkopf gehabt, dass ich als Nachfahre deutscher Juden gerne eine Diskussion eröffnen würde mit deutschen Intelligenzija. Beim Planen meiner Buchtour allerdings habe ich bemerkt: In Deutschland wollte niemand mit mir reden. Alle hielten das Thema für zu heikel, sie wollten es lieber erst gar nicht angreifen. Einzig in Wien hat mir das Bruno Kreisky Forum damals die Tür geöffnet. Da habe ich realisiert, dass sich mindestens noch eine weitere politische Generation Deutscher politisch keinen Millimeter von Israel entfernen wird können, selbst wenn ihre Kritik groß ist.

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STANDARD: Aus der historischen Verantwortung heraus.

Burg: Zum jetzigen Zeitpunkt kann Europa nicht abrücken von Israel wegen Deutschland, dem wichtigsten Player Europas. Ändern wird sich das in zehn, 15 Jahren, wenn eine junge Generation an die Macht kommt, deren Großeltern nichts mit dem Holocaust zu tun hatten. Für sie sind Friedrich Barbarossa und Adolf Hitler gefühlt gleich weit weg in der Vergangenheit. Wie lange sollen sie den Preis für den Holocaust zahlen? Die große Sympathie für Israel kommt daher, dass sie Israel als Demokratie sehen. Wenn sie aber realisieren, dass diese Demokratie nur partiell, dass sie angeschlagen ist und außerdem eine neue Generation in Deutschland oder Österreich hinzukommt, dann ist der Kredit verspielt. Dann wird eine neue Konversation eingeleitet werden. Ich plädiere für eine Normalisierung der Beziehungen, für eine mit einem Trauma, ja, mit Schmerz und Erinnerung, aber das ist wesentlich normaler als die Beziehung von heute.

Israel hat sich immer als Teil des Westens verstanden, womit die USA und Europa gemeint waren. Ich bin mir unsicher, was ich heute von den USA halten soll. In den USA sind unsere größten Unterstützer im konservativsten Eck der Republikaner zu finden. Die Demokraten haben wir bereits verloren, Europa haben wir verloren. Was ist Israel aber ohne den Westen? Ich weiß, es ist eine große Frage, ich habe keine Antwort darauf. Was, wenn Europas Schuldgefühle und die automatische amerikanische Untersützung ein Ende finden?

STANDARD: Darauf stellt sich Israel ohnehin schon ein mit den neuen Partnern im Nahen Osten, etwa Saudi-Arabien.

Burg: Netanjahus Verhalten ist teilweise darauf zurückzuführen, dass der Westen ihm automatisch alles durchgehen lässt. Netanjahu hat das ausgereizt. Das Ende des emotionalen Sicherheitsnetzes ist eine Chance für Israel. Sicher ist es nett, einen verwöhnenden Elternteil zu haben, der nie Nein sagt. Aber gesund ist es nicht. Israel wird vorsichtiger sein müssen, wird seine Entscheidungen mehr abwägen und achtsamer entscheiden müssen, welchem Wertesystem wir uns nahe fühlen. Ich sehe das als große Chance. (Anna Giulia Fink, 26.9.2019)