Nach Meinung des Choreografen Jérôme Bel steckt das choreografische Milieu komplett fest in seinem extrem globalistischen System.

AFP / Stephane De Sakutin

Als Choreograf ist er ein echter Umstürzler. In den 1990ern war Jérôme Bel maßstabsetzender Mitinitiator einer "konzeptuellen Choreografie", die den Tanz hochgradig irritiert hat. Jetzt trägt der Franzose, der in Österreich so gut wie sein gesamtes Œuvre gezeigt hat, einen möglicherweise noch größeren Umsturz mit: Er verweigert sich – wie das auch sein Künstlerkollege Tino Sehgal versucht – dem Flugzeug und entdeckt, dass dieser Entschluss befeuernd auf seine künstlerische Arbeit wirkt. Am 8. Oktober wird sein populärstes Stück, The show must go on aus dem Jahr 2000, in der Szene Salzburg zu sehen sein – mit lokalen Performern auf der Bühne.

STANDARD: Wann flog der Zündfunke für Ihre Entscheidung, dass Sie und Ihre Company RB Jérôme Bel nicht mehr fliegen?

Bel: Im Flugzeug 2007 auf dem Weg von Melbourne nach Paris. Wir hatten gerade The show must go on gezeigt, und an Bord las ich darüber, dass alle wegen der globalen Erwärmung ihren CO2-Fußabdruck reduzieren müssen. Bei mir im Flieger saßen die zwanzig Tänzer der Company, und ich hatte die Idee, nicht mehr die ganze Gruppe reisen zu lassen, sondern zwei von den Tänzern zu schicken, um das Stück vor Ort mit lokalen Tänzern neu zu inszenieren.

STANDARD: Wie kam es dann zum endgültigen Entschluss?

Bel: Vor fünf Jahren erzählte mir eine Programmverantwortliche eines wichtigen Pariser Theaters von einer Performance über Ökologie, die sie eingeladen hatte. Als sie sagte, dass die Company aus Australien kam, ist etwas in mir zerbrochen. Und vergangenen Februar habe ich die Heizung meiner Wohnung in Paris so energiesparend wie möglich machen lassen. Da dachte ich plötzlich daran, dass zwei meiner Assistenten gerade von Hongkong, wo sie mein Stück Gala reinszeniert hatten, zurückflogen, während zwei andere in einem Flugzeug nach Lima saßen, um dort dasselbe zu tun. Ich sagte mir, ich bin ein Heuchler, mein Leben ist völlig nutzlos, und fiel für einige Wochen in eine schwere Depression. Danach traf ich diese Entscheidung.

STANDARD: Die ersten Reaktionen?

Bel: Erst einmal eine allgemeine Panik in der Company. Aber wir haben uns beruhigt und angefangen, darüber nachzudenken, was wir tun könnten, um unsere Arbeit ohne Flugreisen fortsetzen zu können. Ich schlug vor, via Skype zu proben. Also gibt es jetzt zum Beispiel zwei Versionen meines neuen Stücks Isadora Duncan. Eine geht in Europa auf Tournee und die andere im Nordosten der Vereinigten Staaten. Mit dem Zug.

STANDARD: Und Ihre anderen Arbeiten?

Bel: Für die meistgefragten Repertoirewerke, The show must go on und Gala, arbeiten wir mit lokalen Choreografen zusammen, in Städten wie Taipei, Mexiko-Stadt, Buenos Aires oder Beirut, die diese Stücke einladen. Die Choreografen vor Ort können sie mithilfe des Scores, der Videos und von Skype-Meetings reinszenieren. Das ist sehr stimulierend.

STANDARD: Es wirkt sich direkt auf Ihr künstlerisches Arbeiten aus?

Bel: Ich habe mehr Ideen im Erfinden von neuen Arbeits- und Denkweisen und Arten zu tanzen, gehe mehr Risiken ein und fühle mich lebendiger. Dass Veränderung nichts Tödliches ist, sondern das Gegenteil, habe ich eh immer gewusst. Hier bietet sich eine Möglichkeit, uns neu zu erfinden. Das sollten wir nicht fürchten.

STANDARD: Die Kunstwelt jettet doch immer so begeistert um die Welt, um die Kulturen miteinander zu verbinden. Eine Täuschung?

Bel: Na ja, diese Globalisierung in den Künsten, die in etwa während der 1990er aufgetaucht ist, war etwas Fabelhaftes. Aber diese Reisen zerstören die Natur. Und Natur kommt vor Kultur! Wir können das alte Modell des "künstlerischen Jetsets" nicht mehr weiterführen. Wir wissen, dass wir reduzieren, verlangsamen und uns jeder unserer Handlungen mehr bewusst sein müssen. Der Jet repräsentiert das Gegenteil davon.

STANDARD: Haben Sie ein Beispiel dafür?

Bel: Im Sommer dachte ich an den CO2-Fußabdruck eines Stücks, das ich mir angeschaut habe. Die vielen Tänzer, ihre Reise über den Atlantik, die Techniker und so weiter – es war ein Blick in die Hölle. Ich habe schmelzendes Eis, Stürme und Klimaflüchtlinge vor Augen gehabt und beschlossen, keine Stücke mehr von Companys anzuschauen, die immer noch mit dem Flugzeug anreisen und nicht nachhaltig sind.

STANDARD: Bei Impulstanz haben Sie diesen Sommer einen "Think Tank: Dance and Ecology" geleitet. Glauben Sie, die Kunstwelt ist bereit für einen Wandel?

Bel: Über die sozialen Netzwerke kontaktieren mich jetzt viele Leute, um mit mir über ihre Situationen und Möglichkeiten zu sprechen. Glücklicherweise!

STANDARD: Wird sich Konkretes ändern?

Bel: Leider steckt das choreografische Milieu komplett fest in seinem extrem globalistischen System, das einen schrecklichen CO2-Fußabdruck produziert. Die Festivalleiter hören mir zwar aufmerksam zu, aber sie sind Gefangene eines Systems, das sie nicht infrage stellen wollen. Genau dieses System muss neu überdacht, dekonstruiert und reformiert werden.

STANDARD: Wer soll es tun?

Bel: Ich sehe viel mehr Energie in den Jüngeren. Sie haben nichts zu verlieren, und ich glaube, dass sie bereit sind, neue Arbeitsweisen zu erfinden. (Helmut Ploebst, 27.9.2019)