"Fliege fort, fliege fort" heißt der dritte Furth-Roman von Paulus Hochgatterer: Die zentralen Orte und Protagonisten kennen wir bereits aus den ersten beiden Bänden.

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Im schönen Furth am See liegt ein alter Mann im Krankenhaus, verletzt und geschunden, als sei er bei einer Rauferei unter Fäuste und Tritte geraten. Wie es dazu kam, will er aus schierer Angst verschleiern; deshalb wird der Psychiater Horn hinzugezogen. Es ist der Beginn einer Reihe von Gewalttaten, die die Kripo unter Kommissar Kovacs aufklären soll.

Wer die faszinierende Literatur von Paulus Hochgatterer kennt, hat auf Neuigkeiten aus diesem Furth gewartet. Zum dritten Mal ist die fiktive Stadt sein Schauplatz. Für Fliege fort, fliege fort wie für Die Süße des Lebens (2006) und Das Matratzenhaus (2010) sagt der Autor selbst im Gespräch, der Roman sei "auch ein Krimi". Indes ist er viel mehr.

In feinen Strichen zeichnet Hochgatterer einen Mikrokosmos mit seinen schönen und schrecklichen Seiten: "Österreich, die freundliche Variante der Bösartigkeit", steht in Das Matratzenhaus. Im kurzen Blick von außen, von den Bergen, vom See mag der Schein der Stadt, des Stifts und der Umgebung geruhsam wirken.

Schnell jedoch stört ein Motorboot im Wasser, stört der Mensch auf seiner Wanderung einen Kolkraben, brechen latente Aggressivität, Fremdenfeindlichkeit und autoritäre Selbstermächtigung hervor. Hinter den Fassaden werden dunkle Flecken im Leben der Einzelnen erkennbar, tun sich Risse der Gesellschaft auf.

Aber es gibt auch Solidarität, Zuneigung, Charakterstärke, Widerständigkeit. Der Roman schafft zugleich einen mitreißenden Spannungsbogen und eindringliche Ansichten eines heimischen, keineswegs heimeligen Psychopanoramas, in dem die Vergangenheit Schatten auf die Gegenwart wirft.

Was Heranwachsenden widerfährt

Die zentralen Orte und Protagonisten kennen wir aus den ersten beiden Furth-Romanen: Krankenhaus und Kommissariat mit ihren Teams aus unterschiedlichen, in zwei Sätzen plastisch vor Augen geführten Charakteren; Leftis Lokal am See; Horns Cello spielende Frau und die Lebensgefährtin von Kovacs; Pater Bauer, der Bird on the Wire vom Ohrenstöpsel hört, während er die Messe liest und noch immer Angst hat, in tausend Stücke zu zerfallen – und als Gegenspieler ein reicher Auftrumpfer und politischer Berserker.

Seit dem Matratzenhaus sind die Figuren älter geworden, im Grunde ist vieles gleich geblieben. Gewichtige Veränderungen treiben nun Fliege fort, fliege fort an, und es ist nicht die geringste, dass sich Tobias, der Sohn von Irene und Raffael Horn, widerspenstig auf die eigenen Füße stellt.

Vor allem ist seit 2010 Wesentliches geschehen, sodass sich Kommissar Kovacs fragt, "wie es passieren konnte, dass einige wenige Menschen die Stimmung in einem Land völlig veränderten". Wir dürfen diesen Satz durchaus auf die heutige politische Situation beziehen.

Wie immer bei Hochgatterer geht es um Heranwachsende und um das, was ihnen widerfährt. "Er dachte", heißt es aus der Sicht des Kommissars, "dass die Hölle auch dort sein konnte, wo viele Kinder waren." Die Stadt betreibt ein prekäres Jugendzentrum, das die Sozialarbeiterin Regina leitet, deren Schwester, eine Lehrerin, mit Pater Bauer liiert ist.

Das frühere Kinderheim, "die Burg", dient nun als Quartier für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Dort walten Schwarzgekleidete mit Glatze und Springerstiefeln, Männer eines Security Dienstes, "Aktion 18" genannt, nach dem ersten und dem achten Buchstaben im Alphabet, A und H.

"Law and Order"

Bei der Fronleichnamsprozession wird einer dieser Neonazitypen von einer Steinschleuder am Kopf getroffen. Zuvor zierte über Nacht ein Graffiti einen Neubau der Immobilienfirma des Landesrates für Wohnbau; alten Leuten wurde Gewalt angetan; und als eine Zehnjährige verschwand, lastete die Angst auf der Stadt – sofort als politische Phrase eingesetzt.

Das Böse und das Richtige, wie Hochgatterer sagt, liegen manchmal ganz nah beisammen. Das Schreckliche steckt seit langem unter der Oberfläche des Lieblichen. Neben dem katholischen Pomp marschiert der Rassismus, "Law and Order" geht gegen Randgruppen vor, Menschen tun einander auf viele Arten weh, vor allem Männer den Frauen.

Andererseits bietet der Roman Passagen einfühlsamer, mitunter ironisch verspielter Zärtlichkeit. Und hinter all dem die Reflexion, was Menschen böse mache, was Gerechtigkeit sei, wem Vergeltung zustehe.

In dieses heterogene Soziotop führt Hochgatterer in der klaren Sprache eines beeindruckend feinen Duktus. Er schafft es, die Erzählhaltung selbst zu einem Indiz der Krimihandlung, zu einer Spur der Verunsicherung zu machen. Das Kapitel "Null" in Die Süße des Lebens verweist mit der Form der Null auf eine Motivkette, die hintergründig auf die Spur des Täters führt, bis die für die Lösung des Mordfalls wesentliche Ich-Erzählperspektive aus einer anderen als der zuvor geschilderten Figur in ein Geständnis kippt.

Dieselbe Anordnung des regelmäßigen Wechsels der Perspektiven zeichnet Das Matratzenhaus und nun den neuen Roman aus. Die Kapitel der Ermittler, des psychiatrischen und des kriminologischen, sind in der Vergangenheit geschildert, jene der dritten Hauptfigur im Präsens.

Einzig die Kapitel, die auf den Täter zu weisen scheinen, kommen aus der Nähe der Ichform. Diesmal steht vor Kapitel "Eins" als Erstes ein Kapitel "Damals" und gibt einen Hinweis auf das Tatmotiv. Auch diesmal sind zu Beginn nur Typen, aber keine Namen genannt. "Namen sind nicht so wichtig", sagt später die Entführerfigur.

Schreckliche Verfahren

Das "Damals" spielt in einem Kinderheim, Metaphern verweisen auf schreckliche Verfahren: die Decke, die Glatze, der Siegelring, der Einzug in Jerusalem. Dass diese Grausamkeiten keine Erfindung des Schriftstellers und Kinderpsychiaters Paulus Hochgatterer sind, kann man in seinem Essay Heimkinder nachlesen, den er für das vom Haus der Geschichte Österreich herausgegebenen Band 100 x Österreich verfasst hat.

Sprache sei das Ergebnis von Verzweiflung, schreibt er hier. In der Danksagung von Fliege fort, fliege fort hat er recht, wenn er festhält: Es ist ein Buch über Misshandlungen und umgekehrt "ein Buch über den Sieg der Imagination des Individuums über die Diktatur der gleichgerichteten Einigkeit".

Hochgatterer ist erneut ein Kunstwerk gelungen, das tief in unsere Psychen und Gesellschaft blicken lässt. Der erste Band spielt im Winter, der zweite im Frühling, der dritte nun im Sommer, jeweils auch an hohen katholischen Feiertagen. Es wäre konsequent und die Vorfreude auf einen hohen literarischen Genuss, wenn wir einen vierten Band, Herbst und Allerheiligen, erwarten könnten. (Klaus Zeyringer, 28.9.2019)