Sie hätte dieser Tage zwei Festivals in Österreich eröffnen sollen: Die ungarische Philosophin Ágnes Heller starb am 19. Juli.

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STANDARD: In Ihrem letzten Buch "Paradox Europa" schreiben Sie, Europa stehe sich derzeit selbst im Wege – inwiefern?

Ágnes Heller: Die Gefahr ist der ethnische Nationalismus, also eine Form der Identitätspolitik, die man heutzutage Populismus nennt. Die Polen, Ungarn, Tschechen usw. sagen: Brüssel ist unser Feind, denn Brüssel verteidigt die Migration. Aber stellen wir uns für einen Moment vor, dass die Nationalisten in Europa eine Mehrheit gewinnen und die EU auseinanderbricht. Dann gäbe es keinen Außenfeind mehr, und dann würden diese Länder, die Rumänen, die Ungarn etc. gegeneinander kämpfen. In Europa käme es wieder zu Kriegen. Natürlich würde das nicht zu Weltkriegen führen, denn Europa ist heute zu klein und unbedeutend. Aber Europa würde zugrunde gehen. Dass das passieren wird, kann man aus der Geschichte lernen: Vor dem Ersten Weltkrieg gab es große Reiche in Europa. Diese wurden vom ethnischen Nationalismus zerstört. Und als sie zugrunde gerichtet waren, waren nicht mehr sie die Feinde, also die Habsburger oder der Kaiser, sondern die neuen Nationen haben angefangen, gegeneinander zu kämpfen. Es kam zu einem Zweiten Weltkrieg, zum Holocaust, zum Stalinismus, zum Gulag. Es kam zu hundert Millionen ermordeten Europäern. Das war die Folge des ethnischen Nationalismus von 1914. Natürlich leben wir nicht im Jahre 1914, sondern in anderen Zeiten. Dasselbe wird sich nicht wiederholen, aber etwas Ähnliches könnte passieren. Ethnischer Nationalismus führt immer zu Krieg.

STANDARD:In Ihrem Essay schreiben Sie über die Politik Ihres Heimatlandes Ungarn seit dem Fall des kommunistischen Regimes – als warnendes Beispiel für andere Staaten. Was können wir von diesem Beispiel lernen?

Heller: Ungarn ist ein typisches Beispiel für einen Staat, in dem die Regierung auf ethnischem Nationalismus und Identitätspolitik aufgebaut ist. Außerdem gibt es eine neue Art von Korruption. Korruption, wie wir sie bisher kannten, bedeutete, dass die Reichen die Politiker bestechen, damit sie sich für ihre Interessen einsetzen. Jetzt hat sich das umgedreht. Nicht die Oligarchen schaffen sich ihre Politik, sondern die Politik, in deren Zentrum der Tyrann steht, kreiert ihre eigene Oligarchie. Diese Oligarchie ist eine Art der Re-Feudalisierung. Das heißt, genauso wie der König den treuen Untertanen Land und Adelstitel gab, so gibt heute die Politik Ungarns den treuen Menschen Reichtum. Diese reichen Menschen werden dann die Politik bedienen. Wenn sie die Politik nicht mehr bedienen, werden sie ihren Reichtum verlieren. Das nenne ich Re-Feudalisierung. Ich glaube, dieses Modell gibt es heute nicht nur in Ungarn, sondern in vielen Staaten der Welt. Es handelt sich dabei um ein neues System, eine Form der Identitätspolitik.

STANDARD: Zurück zu Europa: Sie schreiben, dass es in der Entstehungder europäischen Nationalstaaten einen eingebauten Widerspruch oder besser ein "Paradox" gebe ...

Heller: Europa hat den Universalismus erdacht – das heißt, alle Menschen sind gleich und frei geboren. Gleichzeitig haben die Europäer den ethnischen Nationalismus erfunden, der das eigene Volk über die anderen stellt. Diese zwei Grundgedanken können gegeneinander ausgespielt werden. Diese Situation haben wir jetzt. Ein Paradox. In der französischen Konstitution von 1791 heißt es, alle Menschen sind frei geboren, daher gibt es Menschenrechte, "droits de hommes". Daneben ist auch von Staatsbürgerrechten, "droits de citoyen", die Rede. Man hat nicht gedacht, dass Menschenrechte und Staatsbürgerrechte einander widersprechen können. Jetzt ist das der Fall. Diesen Konflikt muss man austragen, ohne eines der beiden zu opfern.

STANDARD: Sie sagen, wir brauchenbeides. Warum können wir nicht den ausgrenzenden Nationalismus aufgeben und uns ganz auf die Universalität der Menschenrechte einlassen?

Heller: Es ist eine Tatsache: Nationalstaaten existieren. Auch die EU existiert als Einheit vieler Nationen. Was existiert, können wir nicht einfach wegdenken. Mit der Realität müssen wir umgehen.

STANDARD: Wie könnte die EU in dem Versuch, einen Kompromiss zu finden, eine Schlüsselrolle spielen? Sie schreiben, die Vereinbarung dieser zwei Grundprinzipien – Nationalismus und Universalismus – "könnte wahr werden, wenn auch langsam, falls die Union die Herausforderung wirklich annimmt". Was bräuchten wir, um das zu erreichen?

Heller: Nationale Identitäten muss man nicht aufheben. Es gibt verschiedene nationale Identitäten, und nicht alle sind ethnische Identitäten. Eine Nation kann beispielsweise auch die "sum total", wie Aristoteles sagt, sein: die Summe der Staatsbürger. In diesem Sinn können wir stolz darauf sein, wenn unser Staat etwas Großes erreicht. Wir können stolz auf die Fußballmannschaft sein, wenn sie die WM gewinnt. Es gibt aber einen ethnischen Nationalismus, der bedeutet, dass man zu einer Nation gehört, nicht basierend auf der Staatsbürgerschaft, sondern bestimmt durch dein Blut. Schauen Sie ins heutige Ungarn: Menschen, die nie in Ungarn gelebt haben, deren Vorfahren bereits vor Generationen aus Ungarn ausgewandert sind, werden jetzt als Ungarn betrachtet und dürfen an Wahlen teilnehmen. Das ist ethnischer Nationalismus, das heißt, dein Blut bestimmt, wer du bist. Zwischen 70 und 90 Prozent aller französischen Juden haben den Holocaust überlebt. In Ungarn hingegen wurden alle ungarischen Juden innerhalb von drei Monaten deportiert und mehr als eine halbe Million ermordet. Warum? Weil für die Franzosen ein französischer Jude Franzose war. Das ist staatsbürgerlicher Nationalismus. In Ungarn waren die Juden, obwohl sie ungarische Staatsbürger waren, trotzdem keine Ungarn, sondern Juden. Das ist ethnischer Nationalismus. Es gibt also zwei verschiedene Arten des Nationalismus. Der staatsbürgerliche Nationalismus identifiziert den Staat mit den Staatsbürgern. Es geht nicht wie beim ethnischen Nationalismus um die Eltern, Großeltern, um Blut oder Sprache. Kultur spielt eine Rolle und gehört zu allen Nationalismen, aber besonders zum staatsbürgerlichen Nationalismus. Kultur ist nicht Blut, Kultur ist gelernt.

STANDARD: Hier könnte also die europäische Lösung ansetzen? Wenn wir beim Begriff der Identität bleiben: Warum ist es so schwierig, eine gemeinsame europäische Identität zu etablieren?

Heller: Ich kann nur die Frage beantworten, warum es keine staatsbürgerliche Identität in Europa gibt: weil es keine europäische Konstitution gibt. Nur wo es eine Konstitution gibt, kann es eine staatsbürgerliche Identität geben. Die Europäer können keine staatsbürgerliche Identität haben, weil sie keine gemeinsame Konstitution haben.

STANDARD: Das Problem ist also das Demokratiedefizit der EU?

Heller: Ja, es ist in der Tat ein Demokratiedefizit, wenn Europäer keine europäischen Staatsbürger sind. Eine europäische Konstitution könnte einen staatsbürgerlichen Nationalismus begründen. Ich glaube nicht, dass Europäer ethnisch nationalistisch sein sollten. Sie sind doch keine Ethnizität. Aber ein kultureller, staatsbürgerlicher Nationalismus kommt infrage. Man braucht also eine Demokratisierung der EU. Aber darunter kann man ganz verschiedene Sachen verstehen. Auch Orbán spricht von Demokratisierung. Er denkt, demokratisch ist die Union, wenn alle Nationalstaaten ihren eigenen Willen durchführen können. Ich glaube, das Gegenteil ist eher demokratisch. Das bedeutet: Ein föderalistischer europäischer Staat könnte demokratisch sein, ist es aber nicht notwendigerweise. Es kommt auch darauf an, ob die Führer wirkliche Politiker sind, die eine Vision haben, wie sich die EU weiterentwickeln soll. Derzeit haben wir eher Bürokraten, die mit ihrem Pragmatismus die aktuellen Konflikte verwischen, anstatt sie auszutragen. Ich glaube, das ist nicht demokratisch im positiven Sinn der Demokratie. Ich glaube, die Union sollte man grundlegend erneuern. Aber nicht mit dem ethnischen Nationalismus, sondern gegen ihn. Mit anderen Konzeptionen, nicht nur mit ökonomischen und finanziellen, sondern mit politischen Konzepten.

STANDARD: Zum Beispiel?

Heller: Zum Beispiel sollten wir uns überlegen, wie ein europäischer Föderalstaat aussehen könnte. Und zwar in einem Europa, das aus Nationalstaaten besteht – denn dieses Faktum kann man nicht leugnen. Aber wie kann man dennoch, mit diesen Nationalstaaten, eine einheitliche föderalistische Union in Europa schaffen? Das ist eine politische Aufgabe. Dafür braucht man politische Fantasie, Ideen, Organisationen, Institutionen. Ich sehe sie bisher noch nicht, aber hoffentlich werden sie noch kommen.

STANDARD: Im Kontext der EU-Debatte erscheint mir eines Ihrer früheren Bücher sehr interessant. In "Von der Utopie zur Dystopie" schreiben Sie von der Gefahr der Utopien: Utopien eines gerechten Staates würden zwangsläufig zum Totalitarismus führen. Sind Zukunftsvisionen einer gerechten, solidarischen und freien EU, in der die Gegensätze zwischen Nationalismus und Universalismus aufgehoben sind, also gefährlich?

Heller: Nein, denn das ist keine Utopie, das ist ein Ziel, dem man näher und näher kommen kann. Es ist eine Zukunft, die man erreichen kann. Utopien sind gefährlich, denn sie flößen den Menschen Illusionen und falsche Hoffnungen ein, die nie Wirklichkeit werden. Und dann kommt die Verzweiflung. Von der Verzweiflung kommt Hass oder Passivität oder Gleichgültigkeit – das ist gefährlich. Es ist etwas völlig anderes, wenn wir darüber nachdenken, wie man unser Leben, so wie es heute ist, ganz konkret verbessern kann: Also wie können wir die Union verbessern, unser Zusammenleben, die Sozialpolitik, die Umverteilung. Es gibt so viele Sachen, die man ganz konkret anpacken könnte, für eine konkrete Zukunft.

STANDARD: Wenn wir über verwirklichbare Zukunftsvisionen sprechen: Was würden Sie sich für die Gegenwart und die Zukunft wünschen? Für sich selbst und für die Gesellschaft?

Heller: Für mich selbst wünsche ich mir, das weiterzumachen, was ich bis zum heutigen Moment gemacht habe. Für Ungarn wünsche ich mir, dass wir uns von der Orbán-Herrschaft befreien. Ich wünsche mir eine liberale Demokratie, die wirklich funktioniert und funktionieren kann. Und gute Politiker, die das verwirklichen können. Für Europa wünsche ich mir einen guten europäischen Föderalismus. Europa als eine Einheit liberaler Demokratien – das ist nicht utopisch. Aber dennoch ist es bis zum heutigen Tag nicht mehr als ein Wunschtraum. Aber ein Wunschtraum, der sich verwirklichen kann. Und für die Welt ... Für die Welt kann ich mir nichts wünschen. Was soll ich mir für die Welt wünschen? Dass es keine Kriege mehr gibt natürlich. Aber das ist doch ein Wunsch, der utopisch ist. Es wird keine Welt ohne Krieg geben. Tut mir leid. (Sophie Menasse, 28.9.2019)