Ganz oben auf der Kathedrale von Palma ist Rubén Alonso noch nicht gewesen. Trotzdem hat er ungefähr diesen Blick über Mallorcas Hauptstadt täglich in immer neuen Variationen. Ihn wollte er zum Beruf machen, seinetwegen hat er mit Ende 40 den Job als Tontechniker und Grafiker aufgegeben und auf Rauchfangkehrer umgesattelt: "Ich wollte hoch hinaus", sagt der schlanke Mann in Schwarz. "Ich suchte Licht, Weite, das Gefühl von Freiheit. In meinem alten Job gab es immer Termindruck, Hektik war der Normalzustand. Über den Dächern Mallorcas ist das wie weggeblasen. Es ist nicht schlimm, wenn du den Kamin erst zwei Tage später kehrst. Davon hängt nichts ab." Er hat den radikalen Schnitt nie bereut.

Palma de Mallorca aus der Vogelperspektive bewundern – das können Besucher nun vom Dach der berühmten Kathedrale.
Foto: Getty Images/iStockphoto/Vershinin

Nur zwei Rauchfangkehrerbetriebe gibt es auf Mallorca, eine Kehrpflicht existiert nicht. Palma selber ist arm an Rauchfängen. Die meisten Aufträge bekommt Rubén aus den Bergdörfern im Tramuntana-Gebirge, trotzdem hat er einen Lieblingsdach in Palma, das zu einem Innenstadtkloster gehört. "Der Ausblick von dort ist so schön, dieses Freiheitsgefühl so groß." Es könnte sein, dass ihm der Blick von der höheren Kathedrale noch besser gefiele.

Seit kurzem ist die jahrhundertelang verschlossene und verwinkelte Welt auf dem Dach der Kathedrale, deren Grundstein im Jahr 1230 gelegt wurde, mit all ihren Terrassen nicht mehr nur den jeweiligen Hausmeistern des gewaltigen Gotteshauses vorbehalten. Joan Bauzá, der Kaplan der Kirche, hatte die Idee: "Lasst uns all den Bauschutt vergangener Generationen und all den Müll wegräumen, Geländer anbringen, dazu Licht in einem Treppenhaus installieren, vieles ausbessern, sichern – und dann diese Facette unserer Kirche allen zugänglich machen."

Entrümpelung einer Kathedrale

Was dann kam, war kein Kinderspiel. Einige Tonnen Schutt, vom vergessenen Rosettenstein über zerbrochene Krüge bis zu leeren Plastikflaschen, hat Joan Pastor Nieto, der Hausmeister der Kathedrale Sa Seu, mit seinen Mitarbeitern und etlichen Freiwilligen weggeschafft, alles über die engen Treppenhäuser. Sie waren erfolgreich. Inzwischen gibt es ein paar Mal am Tag eine geführte Tour über die Dächer von Sa Seu – immer eine Stunde lang, stets für maximal 25 Personen, immer unter der Regie der Kirchenverwaltung, nie auf eigene Faust.

Wer hinauf will, muss bei guter Kondition sein wegen der vielen Stufen, er sollte schwindelfrei sein.
Foto: Getty Images/iStockphoto

Das Wahrzeichen Palma de Mallorcas verfügt über zahlreiche Dachterrassen, die über den Glockenturm zugänglich sind – zum Rand hin leicht abschüssige Flächen, damit das Wasser ablaufen kann, wenn es regnet. In der Summe mehrere tausend Quadratmeter groß sind diese Freiflächen, über zwei Ebenen ziehen sie sich mit Umläufen und weiteren Treppen – alles himmelhoch über den Kirchenbänken im Inneren, mindestens 40 Meter über dem Steinfußboden des Erdgeschosses. Wer hinauf will, muss bei guter Kondition sein wegen der vielen Stufen, er sollte schwindelfrei sein – und möglichst keinen Drehwurm auf der Wendeltreppe bekommen.

Aufwendige Verzierungen gibt es oben, die die Baumeister nur für das Auge Gottes geschaffen haben, Erker und Bögen von denen unten niemand etwas ahnt. Auch unerwartet still ist Palma von hier oben, zudem irgendwie größer. Offenbar gewinnt man erst aus der Höhe einen Eindruck von der tatsächlichen Dimension dieser Stadt – und ihrer Häfen mit kilometerlangen Stegen und abertausenden Yachten. Die Altstadt wird zu einer Landschaft aus Rot und Braun, aus Schluchten und Tälern. Es gibt grüne Tupfer und graue Achsen – ein über die Jahrhunderte gewachsener Fleckerlteppich. Manchmal dringt ein Kinderlachen herauf, ab und zu bringt der Wind das Wiehern eines Kutschpferdes herauf, das unten vor dem Kirchenportal wartet.

Privater Sonnenaufgang

Und hie und da steigt Hausmeister Nieto die 215 engen und steilen Stufen einfach nur empor, um ganz alleine die Sonne über Palma de Mallorca aufgehen zu sehen. Um zu erleben, wie der Himmel frühmorgens erst milchig, dann blau wird und die Sonne kurz darauf die Sandsteinfassade wieder golden anmalt. Das ist seine Lieblingszeit. Er kann gut verstehen, was Rauchfangkehrer Rubén Alonso an dem Beruf auf den Dächern so reizvoll findet.

Bei seinen morgendlichen Ausflügen besucht Nieto regelmäßig Eloi und schickt einen Gruß ins Gebälk. Diesen alten Vornamen trägt die größte und mit 4.500 Kilo schwerste Glocke, die nur schlägt, wenn ein Papst gestorben oder ein neuer gewählt ist. Wer auf die Dachterrassen will, muss unter ihr hindurch. Eloi ist auch deshalb so selten im Einsatz, weil die Glocke eine dermaßene Wucht entfaltet, dass es der Statik der Kathedrale schadet.

Um zu erleben, wie der Himmel frühmorgens erst milchig, dann blau wird und die Sonne kurz darauf die Sandsteinfassade wieder golden anmalt.
Foto: Getty Images/iStockphoto

Der vorige Job des Hausmeisters hatte übrigens ebenfalls etwas mit dem Himmel zu tun. Er war professioneller Feuerwerker und ist es gern gewesen. Was er jetzt macht, gefällt ihm aber noch besser. "Eine Rückkehr zu meinen Wurzeln", sagt er. Mit acht Jahren hat er schon einmal in dieser Kirche gearbeitet: als Ministrant, nur ein paar Meter unterhalb der Dachterrassen, von denen er damals nichts wusste. Er nicht und auch sonst kaum jemand in der Kathedrale.

Dachterrassen

Die Dächer von Palma scheinen nun generell in Mode zu kommen – bei Investoren und bei Urlaubern. Wenn neue Altstadthotels entstehen, dann fast immer mit Dachterrassen. Es sind die neuen Rückzugswinkel hoch über der viel besuchten Stadt, oft mit einer Bar, manchmal mit einem kleinem Pool. Fast jedes dieser Plätzchen wirkt herrlich entrückt und scheint über den lauten Alltag erhaben. Es ist kein Wunder, dass Touristen nun in Palmas letzter Etage angelangt sind, um nach Frieden suchen. Es ist derselbe, den Rauchfangkehrer Rubén Alonso dort oben findet. (Helge Sobik, 6.10.2019)