Im Festzelt singt G. G. Anderson "Ale ale Aleksandra" und "taka taka sexi bomba". Eine Dame mit graugewelltem Haar und einem bestrickten Gehstock ist gekommen, ein Mann mit einer Hopfendolde auf dem Hut und zig Ehepaare, die in den Gängen tanzen.

Über ihnen ein gigantischer Kranz, an dem gelbe und grüne Bänder wehen und ein Dutzend Wiesbauer-Würste im Takt wippen. Manche Szenen spielen sich eben nur auf der Wiener Wiesn so ab. Darin liegt die Schönheit von Volksfesten.

Mit dem weißen Traktor zur Eröffnung.
Foto: Heribert Corn

Volksfesten kann man sich nicht mit Zahlen nähern, um sie zu bewerten. Dann wäre das Münchener Oktoberfest (16 Festzelte, sechs Mio. Besucher) im Vergleich zur Wiener Wiesn (drei Zelte, 400.000 Besucher) uneinholbar vorn.

Bei Volksfesten zählen andere Dinge: etwa die Eleganz des weißen Traktors, der die Edlseer mit ihren weißgetünchten Instrumenten und schwarzgetünchten Wimpern zur Eröffnung fährt; die Sämigkeit der Schaumbecher, die mit weißen Kokosstreuseln versüßt werden; und eben die Glückseligkeit, die ein Schlagersänger bei Damen über 60 auslösen kann.

Original oder Kopie?

Schlagerlegende G. G. Anderson liefert den Soundtrack: "taka taka sexi bomba"
Foto: Heribert Corn

Ich bin Bayerin, lebe in München und liebe das Oktoberfest. Wie es sich gehört, habe ich mir schon einmal eine handfeste Oktoberfest-Verletzung zugezogen: 2013 musste ich mit einer schweren Schienbeinprellung ins Krankenhaus, nachdem mich ein Betrunkener beim Tanzen auf der Bierbank in die Tiefe gerissen hatte; die Spuren sieht man noch heute.

Und vor ein paar Jahren geriet ich ins Oktoberfest im Hofbräuhaus Las Vegas, wunderte mich über angeblich bayrische Traditionen wie das Versohlen der Gäste mit einem Schnapsbrett und gewann das Bierkrugstemmen als beste Frau. Ich bin angereist, um die Wiener Wiesn unter die Lupe zu nehmen. Ist sie ein Original, eine Interpretation oder doch nur eine Kopie des Münchner Oktoberfestes?

Die Wiener Wiesn: ein Original, eine Interpretation oder doch nur eine Kopie des Münchner Oktoberfestes?
Foto: Heribert Corn

Bürgermeister und Skilegende

Donnerstag, zwölf Uhr. In Sachen Eröffnung, man kann es nicht anders sagen, machen die Wiener ihr eigenes Ding: O'zapft wird nicht in einem Festzelt, sondern auf einer Bühne im Freien. Ehe die ersten Liter Bier fließen, gibt es Showeinlagen. Moderatorin Kathi Bellowitsch stellt gerade eine ihrer unvergleichlichen Fragen an einen Funktionär der Wurstfirma Wiesbauer, die ein Festzelt unterhält: "Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei, nicht wahr?" Der lässt sich daraufhin zu der durch und durch philosophischen Aussage hinreißen: "Ich würde das umdrehen. Jede Wurst hat zwei Anfänge."

Skilegende Knauß und Bürgermeister Ludwig bei der Eröffnung.
Foto: Heribert Corn

Dann treten The Clairvoyants auf, bestehend aus den zwei österreichischen Mentalisten Thommy Ten und Amélie van Tass. Sie sind in Österreich weltbekannt, seit sie den zweiten Platz bei America's got Talent 2016 machten. Die beiden ehemaligen Profi-Skifahrer Lizz Görgl (heute Dirndlbotschafterin) und Hans Knauß (heute Bierbotschafter) sollen nun je eine Zahl aus einem Topf ziehen, memorieren – und die Mentalisten erraten die Zahlen.

Die Zahlen sind laut Thommy Schätzungen ihrer Instagram-Fans, wie viele Liter Bier auf der Wiesn getrunken werden. Hmm. Da sind 114 und 453 natürlich auffallend niedrige Zahlen. "Aber wenn man die Zahlen umdreht, dann ergeben sie zusammen das Wort Wiesn", sagt das Duo. Tatsache: Die 4 und die 1 auf dem Kopf ergeben ein W, die 1 ein I, die 3 auf dem Kopf ein E, die 5 ein S und die 4 ein N. Tosender Applaus! "Wie geht das nur?", fragt Moderatorin Bellowitsch. Tja, wie geht das nur? Man schiebt die Frage ein bisschen im Kopf herum.

Wie geht das nur? Das Publikum scheint sich diese Frage gar nicht zu stellen, und so bleibt dann doch unklar, ob es gerade den größten Taschenspielertrick der Geschichte oder pure Mentalistenkunst gesehen hat.

Um 12.24 Uhr wird o'zapft – und Bürgermeister Michael Ludwig bekommt' anders als sein Münchner Kollege, Hilfe, und zwar von Skilegende Knauß. Offenbar möchte die Brauerei ihren Markenbotschafter auf den Fotos sehen. Und so hält Ludwig den Zapfhahn fest, und Knauß schlägt ihn mit sieben Schlägen hinein – fünf mehr als in München. Allerdings auch 14 weniger als in manch anderem Jahr.

Seit 2011 gibt es die Wiener Wiesn: in den kommenden zwei Wochen schieben sich 400.000 Gäste durch die Festzelte.
Foto: Heribert Corn

Nach der Eröffnung rauschen alle, die eingeladen sind, in das Weinzelt. Dort findet der Red-Carpet-Empfang statt. Alamande Belfor, Austria's next Topmodel 2009-Juror, und seine Frau Ianara tragen VIP-Bändchen ums Handgelenk. Alamande Belfor schätzt die Lage so ein: "In Wien gibt es eigentlich keine Prominenten." Die werden nun mit Fingerfood verwöhnt. Dompfarrer Toni Faber ist auch da – auch in Wien ist die Wiesn eine nicht ausschließlich weltliche Veranstaltung. Dass Faber dem Alkohol nicht abgeneigt ist, weiß man, seit ihm vor zehn Jahren der Führerschein gezwickt wurde. Auf der Wiener Wiesn hat er eine Mitfahrgelegenheit gefunden: Er durfte auf dem weißen Traktor einfahren. Nun soll er diverse alkoholische Getränke segnen.

Das Bier hat er bereits beim Anstich geweiht, nun folgt der Wein in einer Flasche, die etwa halb so groß ist wie St. Stephan. Auf der Bühne erzählt er, dass er eine Möglichkeit gesucht hatte, Gebete abzukürzen, und auf die Lösung kam: "Bittedankebussiamen". Und während man einen Bissen vom Beef Tatar kostet, hofft man, dass Toni Faber nicht vergessen hat, das auch zu segnen.

Politiker und Dirndln

Mit all seinem Pomp und seiner Bierernsthaftigkeit ist die Münchner Eröffnungszeremonie sicherlich staatstragender, feierlicher. Andererseits machen ein Volksfest andere Dinge aus: die Stimmung, die Menschen, die Feierbereitschaft. So sieht das auch Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ), der mit dem Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) befreundet ist und das Oktoberfest gut kennt. Im Weinzelt erzählt er mir, dass München in Sachen Internationalität und Tradition natürlich vorn läge.

Die Wiener Wiesn gibt es seit 2011, die Münchner Wiesn seit 1810. Auch in einer anderen Sache sieht er München vorn: "Am letzten Abend ist das sehr romantisch, wenn alle ihre Feuerzeuge in die Luft halten. Das gibt es in dieser Form bei uns noch nicht, aber das wäre sicher eine gute Innovation", sagt Ludwig. In Wien gehe es dafür "entspannt und gmiatlich" zu. Den "Ehrgeiz", München einholen zu wollen, brauche es gar nicht.

Politiker und Dirndln sind so eine Sache, in Deutschland gab es 2013 einen Skandal, weil der damalige FDP-Spitzenkandidat Rainer Brüderle zu einer Journalistin gesagt hat: "Sie können ein Dirndl auch ausfüllen." Die Bemerkung löste eine nachhaltige Sexismusdebatte aus. Brüderle schied 2013 aus dem Bundestag aus. Das scheint nicht unbedingt in Ludwigs Bewusstsein zu sein, als er zu mir sagt: "Schönes Dirndl. Passt Ihnen gut!" Ludwig biegt danach fix ins Kennerhafte ab: "Das ist ein Blaudruck, oder? Da gibt es nurmehr zwei Familienbetriebe: einen im Burgenland und einen in Oberösterreich."

Das Dirndl passt der Autorin, befindet Bürgermeister Michael Ludwig mit Kennerblick.
Foto: Heribert Corn

Donnerstag, 20 Uhr: Auf einer Bierbank hüpfen zwei Burschen in Lederhosen virtuos von einem Bein auf das andere: Das sieht nach jahrelangem Training auf anderen Bierfesten aus. Auf einem Tisch stapeln sich Jägermeisterfläschchen zu einem Jenga-Turm auf, immer zwei nebeneinander. Es liegt der Duft von Hendl und Pheromonen in der Luft. Eine Gruppe besonders athletischer Männer im Gösser-Zelt stellt sich als eine Schweizer Polizeisondereinheit heraus.

Die Wiener Wiesn finden sie besser als die Münchner Wiesn, weil es da "keine Italiener, keine Chinesen" gebe – für sie ist München "zu touristisch". Dafür gibt es in München so gut wie nie freie Tische oder freie Gänge. Denn während man in München umsonst in die Zelte kann, kostet der Eintritt für die Festzelte der Wiener Wiesn am Abend schon einmal 52 Euro – was viele abschreckt. Tagsüber und nachmittags ist der Zutritt zwar frei, aber für die Konzerte am Abend muss man bezahlen – ohne dass ein Hendl oder eine Maß mit dabei wär.

Am ersten Abend...
Foto: Heribert Corn
... sind die Zelte noch relativ leer, ...
Foto: Heribert Corn

Wie volksnah ist ein solches Volksfest? Die Stimmung am Donnerstagabend ist gut, wer viel Eintritt bezahlt, will sich auch amüsieren – aber alle Zelte sind nur halb gefüllt. Unablässig für ein Volksfest sind die Massen, die Enge, die Überfülltheit: Man braucht lange Schlangen an den Toiletten, wo man ins Gespräch kommt, enge Gänge, durch die man sich quetschen muss, zu volle Tische, an die man sich dazugesellen muss, um ein Bier bestellen zu können. So gelingt die Vermischung aller Gäste, nur so entstehen Zufallsbekanntschaften und vielleicht mehr.

... der Stimmung tut das wenig Abbruch.
Foto: Heribert Corn

A schware Partie

Nach einem Abend eines Wochentags ist es schwer, zu sagen, bei welchem Fest es exzessiver zugeht. Eine, die das einschätzen kann, ist die Kellnerin Verena. Sie hat drei Jahre in München gearbeitet und arbeitet zum dritten Mal in Wien auf der Wiesn. Sanitätereinsätze, Schlägereien, Schmusereien – gibt es auf beiden Festen gleichermaßen. "Anfangs kommen in München noch alle vornehm mit ihren Louis-Vuitton-Täschchen hinein, aber dann sieht man sie später wieder – und sie sind mitten auf den Stiegen zugange. In Wien wurde dafür eine Frau in der 11. Schnapsrunde wortwörtlich unter den Tisch getrunken und die Sanitäter mussten kommen." In beiden Städten schließen die Zelte gegen Mitternacht.

Gegen 22 Uhr hallt es aus einem der Festzelte: "Letzte Nocht, woa a schware Partie fia mi, das i ned glei hamkum, woa vu Aufaung au kloa! Letzte Nocht, woa a schware Partie fia mi, i kau mi ned erinnern, wos gestan woa!". Dass mit Seiler und Speer ausgerechnet zwei Österreicher die treffendste Oktoberfest-Hymne geschrieben haben ... Das schmerzt natürlich. (Nora Reinhardt, 28.9.2019)