Wochenlang haben STANDARD-Reporter die Wahlkämpfer beobachtet und Bemerkenswertes aufgeschrieben. Lesen Sie heute die letzten zwei Teile unserer Langzeit-Beobachtungen der Kandidaten im Wahlkampf.

Sebastian Kurz sitzt in der dritten Reihe – dort, wo bei modernen Fernbussen die Sitzreihen zu einer Vierergruppe mit Tisch umgebaut werden, damit man sich angenehmer unterhalten kann –, rund um ihn sitzen drei Mitarbeiter, und Kurz macht: nichts. Er liest nicht, kein Buch, keine Zeitung, keine Notizen, er hat nichts in der Hand. Er telefoniert nicht, er isst nicht, er trinkt nicht, er bereitet sich nicht auf den nächsten Auftritt vor. Fünf Minuten schon.

Er schaut keine Akten an, er daddelt nicht mit dem Handy, er streamt kein Fußballmatch, er netflixt nicht, checkt keine Mails. Er kontrolliert keine Tennisergebnisse, keine Wetterberichte, keinen Terminkalender, er redet nicht mit den Mitarbeitern, dabei hört er ihnen zu, weil sie sich ja neben ihm unterhalten, aber ganz offenbar hat er nichts beizutragen, er schweigt.

Draußen zieht Österreich vorbei, drinnen sitzt Sebastian Kurz – und schaut. Sieben Minuten. Er döst nicht, er schaut wirklich, er baut keine Luftschlösser, er schläft nicht mit offenen Augen, und es schaut auch nicht so aus, als hätte er sein Blickfeld aus den Augen verloren, weil er ganz besonders spannenden Gedanken nachhängt, was ja manchen manchmal passiert. Nein. Sein Blick wandert, mal fixiert er irgendwas im Bus, die Musterung der Sitzbezüge, dann irgendetwas draußen, die schweren Regentropfen oder dieses entzückende Gasthaus da vorne bei der Abzweigung. Zehn Minuten.

Sein Unterkiefer ist ständig in Bewegung, so, als würde er an einem sauren Drops lutschen, aber das kann nicht sein, so lange hält kein Zuckerl dieser Welt, und er hat definitiv nicht nachgeladen. Zwölf Minuten. Sebastian Kurz trägt einen dunklen Anzug, wieso hat er eigentlich nicht einmal das Sakko ausgezogen, das muss auf Dauer doch ungemütlich sein, so eng wie es ist. Er hat die Haare nach wie vor perfekt und das Make-up vom letzten Auftritt sitzt wie aufgesprayt, obwohl wir jetzt schon mehr als eine Stunde im Bus sitzen.

Für Außenstehende wirkt diese Teilnahmslosigkeit allmählich etwas beklemmend, diese Passivität, dieses Nicht-von-dieser-Welt sein, seine Mitarbeiter nehmen davon aber keine Notiz. Sie reden, lachen, tippen in ihre Handys, sie benehmen sich wie eine ganz normale Kumpelrunde auf Ausflug, nur dass der eine mittendrin nicht wirklich dabei ist. Es geht ihm aber offenbar gut, denn hin und wieder dreht er leicht den Kopf, und man sieht, dass er lächelt.

Im Sommer 2019 pflügt Sebastian Kurz zum zweiten Mal in drei Jahren in einem Nationalratswahlkampf durchs Land. Im Tourbus ist alles seltsam steril.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Es ist Sonntag der achte September, Tag drei des dreitägigen Wahlkampfauftakts der ÖVP, und Sebastian Kurz ist von Salzburg nach Tirol unterwegs. Seit 48 Stunden ist er nun schon auf Tournee, er war, in dieser Reihenfolge, in Wien, in Tulln, in Oberpullendorf, in Ried, in Graz, in Villach und jetzt gerade in Salzburg.

Sieben Veranstaltungen hat er seit Freitag bereits absolviert. Erst macht der ehemalige Ö3-Moderator Peter L. Eppinger ein paar Ö3-Scherzchen ("Wo sind die Männer? Wo die Frauen?"), dann läuft ein Video, das vor Rot-Blau warnt, danach pusht Karl Nehammer die Gäste in der Halle auf Betriebstemperatur, und zwar so, dass man im ersten Moment gar nicht weiß, ob er ÖVP-Generalsekretär ist oder doch ein Drill-Sergeant.

Und dann kommt er. Sebastian Kurz hält immer die exakt gleiche Rede, mit der exakt gleichen Intonation und den gleichen Pointen. Er kann den Text natürlich auswendig, so gut, dass er in Salzburg schon gar kein Manuskript mehr dabei hat, als er auf die Bühne steigt. 14 Minuten braucht er für die Rede, in Salzburg etwas weniger, in Oberösterreich etwas mehr, nur in Bregenz wird er am Abend deutlich schneller sein.

Vorarlberger sind höfliche Menschen, die unterbrechen nicht mit nervigem Gejohle, schließlich sind sie wegen der Ideen eines Politikers gekommen und nicht wegen der Witze eines Clowns. Für Kurz wird das sehr irritierend sein, er wird in Bregenz nämlich an den gleichen Stellen wie bei allen acht Auftritten davor eine Pause machen, damit die Zuhörer lachen und klatschen können, und er wird sehr verdutzt in die Gesichter der 1000 Gäste in der Probebühne der Festspiele schauen, die ihn einfach anschweigen, weil: Vorarlberg.

Doch erst geht es nach Kufstein. Seit er ins Auto gestiegen ist, hat er drei Interviews gegeben: Arte, Ö24, der größten schwedischen Tageszeitung, Dagens Nyheter. Seine Botschaften sind ähnlich, es ist toll, in drei Tagen durch ganz Österreich zu fahren und viele Menschen zu treffen, und wenn der Kollegin von Ö24 der Ton ausfällt, kein Problem, er kann seinen Satz exakt wiederholen.

Er hat einmal ganz kurz mit dem Tiroler Landeshauptmann Günther Platter telefoniert "Günther, ja wir sind gleich da, läuft alles?", und dann noch eine Video-Grußbotschaft nach Kufstein geschickt: "Hallo, wir sind gerade noch in Salzburg aber schon auf dem Weg zu euch, ich freue mich schon." Und jetzt hat Kurz Pause, Zeit für sich, und die nützt er und schaut.

Was geht in diesem Mann vor?

Höflich bis steril

Sebastian Kurz: 33 Jahre alt, jüngster ÖVP-Chef, Bundeskanzler und Ex-Kanzler aller Zeiten, Umfragenkönig, logischer nächster Regierungschef. Schlagfertig, höflich, telegen, streng mit Migranten und solchen, die es noch werden wollen, jovial im Umgang mit vielen Journalisten. Quotenbringer im Nachrichtenfernsehen. Jobgarant für viele Bürgerliche.

Ausgestattet mit einem enormen Gespür für populistische Themen: und offenbar passionierter Wahlkämpfer. Im Sommer 2019 pflügt er zum zweiten Mal in nur drei Jahren in einem Nationalratswahlkampf durch das Land, dazwischen war auch noch eine EU-Wahl und vier Landtagswahlen. Er kann das ganz offenbar besser als andere.

Freitag, 5. Juli, die niederösterreichische Volkspartei hat für Kurz ein Sommerfest in der sogenannten Werft in Korneuburg organisiert. An die 1500 Menschen sind da, die meisten haben irgendwas Türkises am Körper, und wenn es nur das türkise Eis ist, mit dem sie sich angepatzt haben.

Die Veranstaltungsarchitektur sieht aus wie ein amerikanisches Townhall-Meeting, die Gäste sitzen im Halbkreis, und auf einmal steht auch Sebastian Kurz mitten in der Menge. Er hält eine kurze Rede, die sich im Wesentlichen darum dreht, dass er gerne weiterregieren würde, besonders lange braucht er dafür nicht.

Während Kurz spricht, steht er mitten unter den Menschen, das wirkt modern, es macht sich auch gut auf den Bildern. Aber Moment: Kurz ist zwar groß, aber so groß, dass er alle Menschen rund um ihn um ein paar Zentimeter überragt? So groß, dass man ihn auch in der größten Masse sofort erkennt, es aber gerade noch nicht unnatürlich wirkt? Nein, das ist er natürlich nicht. Kurz steht auf einem Schemel, den ihm ein Mitarbeiter hingeschoben hat – und sofort wieder wegnimmt, sobald Kurz mit der Rede fertig ist.

In Niederösterreich ist einfach alles groß und gewaltig, und das gilt auch für die Veranstaltung. Geld spielt keine Rolle, aus zwei Gründen: Die Sause steigt wahrscheinlich nicht ganz zufällig vier Tage vor dem 9. Juli, dem Stichtag, ab dem die Wahlkampfkosten-Obergrenze von sieben Millionen Euro gilt.

Und außerdem geht die Rechnung an die potenten Niederösterreicher und nicht an die schwer verschuldete Bundes-ÖVP, der die Deckelung der Parteispenden durch FPÖ, SPÖ und Liste Pilz die Finanzgebarung noch schwerer gemacht hat.

Im Vergleich zu Korneuburg sind alle Veranstaltungen, die danach kommen, so was wie Wohnungseinweihungspartys, bei der jeder seinen eigenen Wein mitnimmt und der Gastgeber maximal ein paar Liptauerbrote geschmiert hat.

Landfahrt mit Freibier

Wer im Sommer 2019 Sebastian Kurz hören will, der bekommt im besten Fall eine Flasche Mineralwasser, einen Apfel und türkise Schuhbänder (bei den Wanderungen) oder einen Gutschein für Frankfurter (im oberösterreichischen Schiedlberg). Ansonsten bezahlt man bei der neuen Volkspartei 2019 für fast alles: sechs Euro für eine Schnitzelsemmel (in Kufstein), sechs Euro für ein Pulled-Beef-Sandwich (in Bregenz), irgendwas zwischen 3,20 Euro (im Mühlviertel) und 3,50 Euro (in Bregenz) für das kleine Bier.

Körpersprachen-Experte Stefan Verra über die Wahlkampf-Auftritte von Sebastian Kurz.
DER STANDARD

Nur in Zell am See und Murau gehen die Drinks aufs Haus, das hat aber auch Schönheitsfehler: In Zell sind, weil es das Freibier auch während der Rede gibt, fast mehr Menschen vor dem Saal als drinnen, in Murau überwacht ein Typ mit Stricherlliste den Bierausschank, und um 10.40 Uhr vormittags hat er in der Zeile "Bier" bereits 150 Striche gemacht. Wie viel da wirklich hängenblieb?

ÖVP 2019, das bedeutet absolutes Kostenbewusstsein. Wolfgang Sobotka zeigt in einem Video, wie man türkise Parkuhren als Werbegeschenke herstellen kann, in einem anderen Video knüpft Puls-4-Moderatorin Sylvia Schneider zu Schulungszwecken türkise Freundschaftsbänder.

Plakatflächen werden eingespart und durch Strohballen ersetzt, die ÖVP-Bauern aufgestellt und mit Kurz-Plakaten beklebt haben. Die Fotos darauf sind Imagebilder, die bei der Kurz-Tour im Sommer nebenbei entstanden sind.

Und Bilder gibt es genug: Wo auch immer Kurz in Österreich unterwegs ist – zwei Fotografen und mindestens ein Videoteam begleiten ihn. Manchmal führt das zu skurrilen Szenen, wenn zum Beispiel in Zell am See das "Wir für Kurz"-Team eine Frau um eine Wortspende bittet: "Wir fragen ganz normale Fans und Sympathisanten", und die Frau dann antwortet: "Kann ich schon machen, ich weiß aber nicht, ob das so schlau ist, ich bin nämlich die Landtagspräsidentin."

In drei Wellen fährt Sebastian Kurz durchs Land, dreimal alle Bundesländer, und dazwischen geht er dreimal wandern – CO2-Ausstoß-technisch hätte Kurz wohl auch auf die Malediven fliegen können. Aber er ist da, und er redet mit jedem und immer, vor allem auch mit den Medien. "Brauchen S’ noch was", fragt er, sobald er Journalisten sieht, und wenn einer sagt: "Danke, ich schau nur", dann ist er irritiert.

Wenn Sebastian Kurz unterwegs ist, dann bleibt kein Baby ungeherzt und kein Hund ungestreichelt. Potenziell peinlichen Momenten weicht er aus:
Er küsst keine Weinköniginnen und dirigiert keine Blasmusikkapellen.

Kurz redet in jedes Mikrofon, oft so lange, bis außer ihm und dem Journalisten niemand mehr auf dem Marktplatz ist. In Murau zum Beispiel: Zuerst ein Interview mit dem ORF, dann mit dem ORF-Landesstudio Steiermark, mit Puls 4, dann einen Liveeinstieg bei Oe24, danach kommt ein Interview mit Murau TV und zum Schluss noch mit einem Reporter, dessen Kameramann gar keinen Sendeaufkleber mehr auf seiner Kamera hat. Genau genommen hat der Kameramann auch gar keine Kamera, sondern ein Handy.

Sankt Michael im Lungau, Festsaal der Michaeli-Stubn, 22 August, für einen Donnerstag um 15 Uhr sind unglaublich viele Menschen anwesend. Selbstständige? Bauern? Frühpensionisten? Die meisten im Saal sind männlich, viele von ihnen tragen Lederhosen, die Frauen Kleider.

Die Veranstaltungsreihe nennt sich "Kurz im Gespräch", und das bedeutet: Kurz kommt auf eine schmucklose Bühne, es gibt kein Vorprogramm, keine Einpeitscher, und die Fragen stellt ein regionaler Landespolitiker.

Die Fragen sind natürlich immer die gleichen, der Auftritt fühlt sich an wie eine Wahlkampfrede, bei der jemand Zwischenüberschriften einwerfen darf. Eine knappe halbe Stunde dauert das, Kurz redet den Großteil davon über den ländlichen Raum. Zur Freude des Publikums sagt er dann noch, dass es "bei mir daheim im Waldviertel keine U-Bahn gibt und auch nicht jede Stunde ein Bus in jede Himmelsrichtung fährt".

Diese Passage wird er auch bei den TV-Konfrontationen anwenden, so lange, bis ihn die SPÖ damit zu provozieren versucht. Schließlich ist Kurz eigentlich aus Wien-Meidling, er hatte das im Wahlkampf 2017 noch betont. Aber so wie es 2017 half, weil er über das Vehikel "Meidling" deutlich machen wollte, dass er eine grobe Ahnung von Migrationspolitik hat und glaubwürdig darüber reden kann, warum man sich manchmal fremd in der eigenen Stadt fühlt, so hilft heute die Waldviertelnummer.

Es macht ihn auf dem Land glaubwürdig. Er fordert dann ein Stipendium für Landärzte, eine Breitbandoffensive, und verspricht, dass es mit ihm keine CO2-Steuer geben wird.

In St. Michael redet Kurz überraschenderweise nicht viel über Migration, und das wird sich auch den ganzen weiteren Wahlkampf durchziehen. Erklärt wird das von der ÖVP damit, dass sein Image als Hardliner ja ohnehin steht.

2019 soll Kurz das Repertoire ausweiten, auch andere Themen bringen. Also spricht er über den ländlichen Raum, Pflege, über Steuerentlastungen für Familien, über Klimaschutz, über seine Ablehnung von CO2-Steuern und die Vorteile von CO2-Zöllen für Agrarprodukte, um "die guten heimischen Lebensmittel" attraktiver zu machen.

Sebastian Kurz nimmt sich genug Zeit für Selfies.
Foto: APA / Helmut Fohringer

Er warnt vor einer Zusammenarbeit von SPÖ und FPÖ oder einer linken Mehrheit in Österreich, und dann hat er zwei Anekdoten über seine Abwahl im Juni im Talon, aber das ist es schon.

Wenn man alle Textbausteine, die Sebastian Kurz in diesem Wahlkampf verwendet, aneinanderreiht, dann kommt man vielleicht auf eine Redezeit von 20, 25 Minuten, mehr Text hat er nicht, und das ist schon ein bisschen ungewöhnlich. Viel abmischen und auf die unterschiedlichen Auftritte anpassen geht sich bei 25 Minuten Gesamtinhalt nämlich nicht aus. Wo auch immer er auftritt, es kommt fast der gleiche Text.

Kurz ist fantastisch darin, auf jede Frage mit einem seiner vorgefertigten Textbausteine zu antworten, aber trotzdem kennt man nach zwei oder drei Kurz-Auftritten eigentlich alles, und das weiß auch Kurz: "Jetzt schauen Sie sich das schon wieder an", sagt er nach einem Auftritt beim Weinstraßenfest in Leibnitz zu einem Reporter, der bereits den zweiten Tag dabei ist, "Ihnen muss ja fad werden, es ist ja sogar mir schon fad."

Sebastian Kurz hat glänzende persönliche Werte, er kommt bei den Österreichern gut an – je älter oder männlicher die Österreicher dabei sind, desto besser sind die Werte, und es gibt auch ein regionales Gefälle: Kurz funktioniert auf dem Land besser als in der Stadt, und das ist für die ÖVP okay, denn noch leben mehr Menschen auf dem Land als im Ballungsraum Wien.

Aber warum kommt er dort an? Weil er den Leuten das Gefühl gibt, ihre Sorgen und Probleme zu verstehen? Weil er ein Waldviertler ist, obwohl er gar keiner ist?

Der Influencer-Kanzler

Wahrscheinlich ist es gar nicht wichtig, ob und was Kurz redet. Wichtig ist nur, dass er sich nach dem Auftritt ausreichend Zeit nimmt. Für die Fotos mit den Fans. Auf 20 Minuten offizielles Programm kommen immer mindestens 40 Minuten für Erinnerungsfotos, besser sind eigentlich sechzig Minuten, damit auch wirklich jeder befriedigt wird. Aber was wollen alle diese Menschen mit den Bildern? Kurz ist Profi, er sieht auf jedem Foto gleich aus, er hat immer den gleichen Gesichtsausdruck und die gleichen aufgerissenen Augen, sein Selfie-Gesicht beherrscht er besser als eine durchschnittliche Instagram-Influencerin.

Das Interessante ist, dass die Menschen, die sich mit ihm fotografieren lassen, gar nichts von ihm wollen – also außer den Fotos. Bei allen anderen Politikern, die sich im Bürgerkontakt auf die Straße werfen, kommt immer mal jemand, der ein echtes Anliegen hat. Jemand, der einem Kandidaten etwas erzählen, ihn auf etwas aufmerksam machen – oder auch beschimpfen will.

Türkise Schnürsenkel als Fanartikel.
Foto: Christian Fischer

Bei Kurz nicht, und die einzige Aufgabe, die seine Personenschützer haben, ist, darauf zu achten, dass Kurz von den Massen nicht gegen eine Wand gedrückt wird. Ein Handschlag, eine Berührung, ein Foto, das war es. Vielleicht sehen die Menschen Kurz ja wirklich schon als ein Kunstwesen, so ikonenhaft überhöht wie einen Popstar oder ein It-Girl. Von Beyoncé erwartet schließlich auch niemand, dass sie sich für die Probleme mit der Gebietskrankenkasse interessiert. Und von Cathy Lugner auch nicht.

Sebastian Kurz ist der Kanzler einer neuen Inszenierung, und er weiß um die Macht der Bilder wie wohl niemand sonst in der österreichischen Politik (okay, von Heinz-Christian Strache dachte man das ebenfalls, aber dann flog er nach Ibiza). Wenn Kurz durchs Land fährt, dann sieht er die Welt nicht nur mit eigenen Augen, sondern immer auch mit den Augen eines Fotografen, der ihn begleitet. Klarerweise mit ihm im Mittelpunkt dieses Fotoromans.

Keine unvorteilhaften Fotos

28 August, früher Nachmittag, es ist Tag eins der sogenannten Inform-Messe in Oberwart. Sebastian Kurz kommt pünktlich. Sebastian Kurz trägt den gleichen Anzug wie gestern in der Steiermark und am Montag in Kärnten. Hat er mehrere Anzüge vom gleichen Modell? Als er mit großem Gefolge die erste Halle durchquert, geht dort die "Freaky Dog Trickdog Show" zu Ende. Kurz nimmt davon keine Notiz, wer will schon auf ein Foto, auf dem im Hintergrund ein verrückter Hund zu sehen ist?

Er läuft weiter, nächste Halle, doch die entpuppt sich als Hochzeitsmesse. Es gibt Aussteller von Kinderstubenwagen, es gibt Hochzeitsfotografen, die für ihr Angebot werben, aber das alles sind keine guten Fotos für jemanden, bei dem sich "das noch nicht ergeben hat".

Kurz läuft weiter, nächste Halle, Nutztiere. Er entdeckt die Lamas, will eines streicheln, doch als das Tier komisch reagiert, ist Kurz schneller weg, als ein Hochzeitsfotograf die Kamera hochhalten kann. Spucken diese Viecher nicht, wenn sie schlechtgelaunt sind?

Nein, es gibt keine unvorteilhaften Fotos von Sebastian Kurz, und seine Mitarbeiter müssen ihn davor auch gar nicht warnen, er weicht allen potenziell peinlichen Momenten aus. Er dirigiert keine Blasmusikkapellen, selbst wenn ihn der Kapellmeister in Kaltenberg im Mühlviertel bei einer großen Wahlveranstaltung wirklich sehr dringend bittet (zwei Wochen vor dem Termin war ein Video von Pamela Rendi-Wagner viral gegangen, die sich beim Dirigieren im Ausseerland etwas lächerlich gemacht hat).

Er lässt sich mit den Weinköniginnen beim südsteirischen Weinstraßenfest in Leibnitz zwar fotografieren, aber er hängt sich bei ihnen nicht ein, und er küsst sie auch nicht, obwohl das ein lokaler Fotograf gerne hätte. Und Kurz vermeidet es, mit Alkohol fotografiert zu werden. Nur in Leibnitz nimmt er bei seinem kurzen Rundgang zweimal ein volles Weinglas in die Hand, stellt es aber sofort weg. Im Mühlviertel lehnt er den Schnaps genauso ab wie das Bier in Schiedlberg.

Bei der Bergauf-Tour in Seefeld Anfang Juli waren laut ÖVP-Pressedienst mindestens 800 Teilnehmer dabei. Auf anderen Bildern sieht man nicht 800 Menschen, sondern ein kümmerliches Grüppchen von vielleicht 50 Menschen bergaufwandern.
Foto: Neue Volkspartei / Jakob Glaser

Wenn er unterwegs ist, dann lässt er kein Baby ungeherzt und keinen Hund ungestreichelt, und Sebastian Kurz ist extrem wandelbar. Bei Kindern und Hunden verkleinert er sich, so gut es geht, er schaut, dass er auf Augenhöhe und nicht von oben herab kommuniziert, das macht sympathisch.

Bei satisfaktionsfähigen Menschen nimmt Kurz dagegen fast automatisch Posen ein, in denen er der aktive Part ist. Er ist der, der erklärt, gerne mit den Händen, der, dessen Nähe oder Ohr die anderen suchen. Man muss sich gar nicht fragen, ob er das nur für die Fotografen macht – Sebastian Kurz wird einfach immer fotografiert.

Und noch tiefer geht Kurz, wenn er, wie Ende August, im südburgenländischen Güttenbach ein Pflegeheim besucht. Zehn, 15 Minuten spricht er bei diesem Besuch im Pflegeheim mit den Patienten, er geht reihum, bevor er sich auf die Terrasse mit Blick auf den Friedhof setzt.

Zu Beginn des Wahlkampfs ging ein Video viral, auf dem Kurz sehr unglücklich in einem Altersheim stand und fragte: "Na, habts schon g’essen?" Das muss aber wirklich ein Ausrutscher gewesen sein, denn Kurz kann diese schwierigen, für die meisten Menschen wohl eher unangenehmen Gespräche mit wildfremden Älteren eigentlich gut.

Er kniet sich dann neben Rollstühle, berührt fast zärtlich die Pensionistinnen und fragt ganz unironisch: "Sind Sie gut versorgt?" Dann hört er zu. Gespräche mit Rentnern sind die einzigen Momente, in denen er den Kopf unter der Augenhöhe des anderen hat, in denen Kurz zu Menschen aufschaut. Das macht ihn zum netten Enkerl, das jede Woche eine Fernsehzeitung vorbeibringt und die Batterien wechselt, wenn die Fernbedienung mal aus ist.

Er wirkt im Gespräch mit alten Menschen nett, hilfsbereit, man würde absolut verstehen, wenn ihm hin und wieder eine Oma über den Kopf streichelt und ihm ein bisschen was zusteckt, für später. Jede so viel, wie sie kann, es müssen ja nicht immer 49.000 Euro monatlich sein.

Ruhiger, zurückhaltender, biederer

Sebastian Kurz ist ein höflicher, gut erzogener Mann, er hat Manieren und eine gute Kinderstube, und das zeigt er auch, aber eben nicht auf die exaltierte Art der Großbürger oder Aristos. Er ist kein Gudenus und kein Mensdorff-Pouilly, sondern ruhiger, zurückhaltender, biederer.

Die Manieren von Sebastian Kurz sind nicht der hohe Elmayer, sondern kommen eher aus der Tanzschule Mühlsiegl in Wien-Meidling. Aber immerhin: Sie kommen aus der Tanzschule. Er trägt nicht nur Journalisten die Teekannen nach, sondern er gibt Menschen die Hand, er sagt Danke und Bitte und nimmt nichts als selbstverständlich. Er kommt, so gut es geht, pünktlich, den ganzen Wahlkampf über war er bei keiner Veranstaltung mehr als zehn Minuten zu spät.

Wenn er von einer Veranstaltung wegmuss, bevor alle ihr Selfie bekommen haben, dann entschuldigt er sich. Er lässt Damen und seinen Gästen den Vortritt, er hilft in Jacken, er holt sich das Mineralwasser selbst aus dem Kühlschrank, und wenn er im Wahlkampfbus seinen Salat aufgegessen hat, dann trägt er die Verpackung selbst weg und wirft sie in den Mistkübel. Und er macht das übrigens sofort, nachdem er aufgegessen hat.

Gespräche mit älteren Menschen – wie hier in einem Bierzelt in Ried im Inkreis – kann Sebastian Kurz gut. Er wirkt nett, hilfsbereit, wohlerzogen. Aber eben nicht auf die exaltierte Art der Großbürger und Aristos.
Foto: Christian Fischer

In Sebastian Kurz’ Umgebung ist alles sauber, fast steril. In seinem Wahlkampfbus liegen keine Papiere herum, und zwar wirklich gar keine. Es gibt keine Zeitungen, keine Zettel, keine Kulis, keine Broschüren und schon gar keine Wahlprogramme, die es zum Zeitpunkt seiner Wahlkampf-Auftakt-Tour auch noch gar nicht gab.

Niemand in dem Bus hat einen Aktenordner oder eine Unterschriftenmappe, und abgesehen von den beiden Fotografen, die ihre Bilder abspeichern, hat niemand einen Laptop mit. Die unbenützten Sitze sind tatsächlich leer, genauso wie die Hutablage. Im ganzen Bus gibt es nichts Persönliches, Kurz hat bei dieser dreitägigen Busfahrt nicht mal eine Tasche für Privates oder für Unterlagen dabei.

Im Scheinwerferlicht

Bei Christian Kern türmten sich am Ende des Wahlkampfs die Geschenke, Bildbände und Kinderzeichnungen aus ganz Österreich, am Ende der Tour lag eine Kopie des FPÖ-Wirtschaftsprogramms in der Hutablage. In Sebastian Kurz’ Bus deutet auch Sonntagabend, kurz vor Bregenz, absolut nichts darauf hin, dass da jetzt gerade zwölf Menschen seit 72 Stunden damit durch ganz Österreich gefahren sind.

Sebastian Kurz ist so verdammt schwer greifbar. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner hat ihm Doppelbödigkeit vorgeworfen und ihn als Mann mit zwei Gesichtern hingestellt. Das ist natürlich ein Vollholler, denn wer, der in der Öffentlichkeit steht, ist das nicht? Auch Rendi-Wagner wird, wenn sie daheim mit ihrer Familie sitzt, wohl anders sein, als wenn eine Fernsehkamera auf sie gerichtet ist. Aber wie ist dieser Sebastian Kurz ohne Kamera? Auch so glatt? Auch so absolut ohne Kanten? Auch so fast zwänglerisch kontrolliert?

Eine der absurderen Seitenstränge dieses ohnehin schon sehr absurden Wahlkampfs waren die Geschichten einer Rechercheplattform, die die Verbindungen von Sebastian Kurz zum Wiener Partykönig Martin Ho thematisierten. Irgendwie ging es dabei auch um Drogen, und es ist eine komplett absurde Vorstellung, dass jemand, der so verbissen und konzentriert wie Sebastian Kurz an seiner Karriere arbeitet, diese wegen ein paar Partynächten verblasen würde.

Sebastian Kurz wird immer fotografiert.
Foto: Christian Fischer

Medien legten nach und veröffentlichten unter anderem Abrechnungen von Partys, die Kurz mit seinem Team in den Etablissements von Ho gefeiert hat. Hohe Beträge, okay, aber andererseits ist es irgendwie klar, dass ein Bundeskanzler eine Party wenn, dann in einem privaten Klub feiert, in dem es Handyverbot gibt, und nicht im Praterdome. Und irgendwann muss wohl auch Sebastian Kurz feiern, der Mann ist 33 und lebt seit mehr als zehn Jahren im Scheinwerferlicht.

Ein großes Spiel

Aber natürlich hat Sebastian Kurz zwei Gesichter, auch und vor allem im Umgang mit anderen Repräsentanten der Öffentlichkeit. In der öffentlichen Darstellung betont er immer wieder, dass viele Medien unfair über ihn berichten, aber dann telefoniert er sich dauernd durch die Chefredaktionen, und wenn Kurz in den Bundesländern ist, legt er aus Prinzip Stopps bei den lokalen Medien ein, besucht die Redaktionen oder nimmt an Veranstaltungen teil.

Bei einem öffentlichen Interview der Oberösterreichischen Nachrichten zum Wahlkampfbeginn fetzt er sich zum Beispiel ungewohnt aggressiv und dünnhäutig mit den beiden Interviewern, aber kaum ist der öffentliche Teil vorbei, wird Kurz sofort wieder amikal.

Und während des gesamten Wahlkampfs lädt Kurz immer wieder Journalisten zu Hintergrundgesprächen ein (manche freilich voller Absicht auch nicht). Es sind dabei mittlerweile längst nicht mehr nur Chefredakteure vertreten – und es ist überraschend, mit wie vielen Journalisten Kurz per du ist.

Er ist in solchen Runden locker, macht Witze, und irgendwie schafft er es, fast bei jeder Frage eine persönliche Verbindung zum Fragenden aufzubauen. Niemand fragt dann mehr kritisch nach. In solchen Momenten wirkt es, als wäre dieses ganze Innenpolitik-Gedöns für Sebastian Kurz einfach ein einziges großes Spiel, in dem er halt ganz besonders gut ist und in dem er, wenn es mal eng wird, wie ein Spitzbub so lange an den Regeln rüttelt, bis er doch noch gewinnt.

Seit 2008 spielt Sebastian Kurz Politik auf Bundesliga-Niveau, wahrscheinlich ist schon so gut wie alles über ihn gesagt worden. Seit dem Wahlkampf 2019 wissen wir aber, dass auch die ÖVP von Kurz, wenn etwas nicht exakt nach ihrem Drehbuch abläuft, genauso fehleranfällig ist wie andere Parteien.

Es gibt von Kurz kein unvorteilhaftes Foto.

Bei der Bergauf-Tour in Seefeld Anfang Juli zum Beispiel waren laut ÖVP-Pressedienst mindestens 800 Teilnehmer dabei. Kurz darauf checkt ein Spaßvogel, dass man auf dem Wetterdienst Bergfex den Veranstaltungsort aus einem anderen – größeren – Blickwinkel anschauen kann. Und auf den Bildern sieht man nicht 800 Menschen, sondern ein kümmerliches Grüppchen von vielleicht 50 Menschen bergaufwandern.

Abweichungen vom Drehbuch

In Zell am See schenken sie während der Rede von Kurz vor der Halle ungezwungen weiter Freibier aus, was dazu führt, dass fünf Minuten nach Beginn der Rede von Kurz maximal noch die Hälfte der Zuhörer im Saal ist.

In Salzburg, bei einem Rundgang über den "Schwemme"-Spezialitätenmarkt, fährt ausgerechnet in dem Moment, in dem Kurz ankommt und alle Kameras auf den Parkplatz gerichtet sind, die kommunale Müllabfuhr vor und verstellt nicht nur Kurz den Parkplatz, sondern verstinkt alles. Kurz muss um den Müllwagen herumgehen und gibt seine ersten Interviews neben dem Mistkübel. Sieht nicht ganz so toll aus.

Und wie groß ist der Zuspruch zu den Kurz-Veranstaltungen wirklich noch? Wie viele Menschen wären vor Ort, wenn man alle ÖVP-Funktionäre abzieht? In Güssing ist die Festwiese beim Kurz-Auftritt Ende August zwar komplett voll, doch als der Österreich-Korrespondent der NZZ einen Besucher sucht, der nicht ÖVP-Funktionär ist, scheitert er, zumindest bricht er die Suche nach 45 erfolglosen Minuten ab.

Oder in Kärnten: Zwischen zwei Terminen wird Kurz nach Spittal an der Drau geschickt, um dort etwas zu eröffnen, das sich "Ackerbox" nennt und genau das ist – ein Baucontainer, aus dem heraus regionale Produkte verkauft werden. Er steht in einem Gewerbehof und wird an einem Montag um 17 Uhr eröffnet, Uhrzeit und Anlass entsprechend sind bei der Eröffnung keine 50 Menschen anwesend.

Als der Ehrengast zum Mikro gebeten wird, ist es übrigens nicht Sebastian Kurz, sondern der Winzer Leo Hillinger, bekannt aus den Seitenblicken und der Fernsehshow 2 Minuten, 2 Millionen. Kurz wird mit keinem Wort erwähnt. Laut dem ÖVP-internen Zeitplan hätte Kurz bei diesem Event 45 Minuten bleiben sollen, tatsächlich ist er völlig zu Recht nach zehn Minuten weg. Wort- und grußlos.

Wer hat diesen obskuren Termin vereinbart? Wer schickt den De-facto-Bundeskanzler zur Eröffnung eines Baucontainers, bei dem dann ein Society-Winzer wichtiger ist als er? 2017 wäre das eher nicht passiert.

Mit gesundem Menschenverstand

Wo auch immer Sebastian Kurz in diesem Wahlkampf hinkam, sein Thema war fast immer das sogenannte Grundvernünftige. Wäre der Hausverstand eine Partei, Sebastian Kurz wäre ihr Obmann. Richtige Entscheidungen in der Politik, die trifft man nicht aus dem Bauch heraus, sondern mit gesundem Menschenverstand: In jeder seiner Reden kommt das vor.

Immer wieder taucht auch die Formulierung "Das ist ja wohl logisch" auf, er sagt fast immer, "dass ich ja nicht mehr ausgeben kann, als ich einnehme, das weiß jeder", "es ist ja wohl logisch, dass nicht alle Menschen zu uns kommen können", "wenn jemand keine Steuern zahlt, dann ist ja wohl klar, dass man ihn bei einer Steuerreform ja nicht noch weiter entlasten kann".

Der Wahlkampfbus von Sebastian Kurz nähert sich Kufstein, und plötzlich kommt Bewegung in ihn. Kurz nimmt sein Handy, und beginnt damit rumzuspielen. Es ist ein iPhone, und Kurz wischt nach links, zur Überblicksseite. Wie bei allen anderen sieht man auch bei ihm Wetter, nächste Termine und die drei Topschlagzeilen der Medien, auf denen man normalerweise surft. Bei Kurz sind das Oe24, Krone und Heute.

Der Wahlkampfabschluss der ÖVP.
DER STANDARD/APA

Kurz sieht sich länger die Meldungen an und klickt dann auf Oe24. Dort scrollt er einmal über die Startseite und klickt dann auf die Meldung, die ihn offenbar wirklich interessiert. Es ist eine Geschichte darüber, dass Natascha Kampusch neuerlich ein Buch schreiben will.

Der Häuslbauer-Kanzler

Kurz ist der Kanzler, den wir verdienen, er ist ein Politiker, wie wir uns vielleicht auch selbst sehen. Ein Kanzler wie ein Häuslbauer, einer, der nicht für alles einen Spezialisten kommen lassen muss, denn er hat, das sagt er sogar selbst, ja keine zwei linken Hände.

Er ist einer für die, die sich nicht vom Baumeister verarschen lassen, sondern einfach wissen, dass man vor schwierigen Entscheidungen kurz innehalten muss, um das Hirn einzuschalten, die etwas bei Lichte betrachten und mal eine Minute setzen lassen wollen.

Im Großen und Ganzen ist das das Bild, das Sebastian Kurz auch in diesem Wahlkampf vermitteln möchte. Bloß: Für die, die glauben, dass man manchmal eher zehn Minuten nachdenken sollte, weil die Welt doch etwas komplexer ist – für die hat er kein Angebot.

Aber die sind in Österreich ohnehin nicht die Mehrheit. (Markus Huber, 28.9.2019)