Die Nacht auf Freitag verbrachten viele Istanbuler im Freien.

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Es war kurz und leicht, aber doch stark genug, um Panik zu erzeugen: 5,7 auf der Richterskala maß das Erdbeben, das Istanbul am Donnerstagmittag erschütterte. Das Zentrum lag rund 40 Kilometer von Istanbul entfernt im Marmarameer. In Beyoğlu im europäischen Teil der Stadt war es nur für einige Sekunden zu spüren – so als sei ein Lkw ins Gebäude gefahren.

Trotzdem füllten sich die Straßen kurz danach, Schulen und öffentliche Einrichtungen stellten vorübergehend den Betrieb ein. Auch die Mobilfunknetze waren stellenweise für einige Stunden außer Betrieb. Hunderte von Istanbulern verbrachten die Nacht zum Freitag in Parks – aus Furcht vor stärkeren Nachbeben. Bei vielen weckte das Beben Erinnerungen an ein weitaus schlimmeres.

Knapp 20 Jahre ist es her, dass ein verheerendes Erdbeben mit Zentrum in İzmit große Teile der Stadt zerstörte. Am 17. August bebte die Erde mit einer Stärke von 7,4 für 45 Sekunden. Rund 18.000 Menschen kamen damals ums Leben, 50.000 wurden verletzt, 300.000 wurden obdachlos.

Opposition kritisiert Notfallpläne

Seitdem hat sich viel verändert, tausende Gebäude wurden abgerissen und erdbebensicher neu errichtet. Das aber genügt nicht – sagt die Opposition. Der türkische Präsident Tayyip Erdoğan wies nach dem Erdbeben darauf hin, dass die Regierung in den vergangenen Jahren tausende Schutzplätze eingerichtet habe. Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der Oppositionspartei CHP sagte jedoch, man habe 859 solche Notpunkte identifizieren können, und es sei unklar, wie viele davon einsatzfähig seien. Der Vorsitzende der Ingenieurs-Kammer in Istanbul, Nusret Suna, sprach gar von nur 77 solchen Einrichtungen und fügte hinzu, dass selbst tausende nicht genug seien in einer Metropole mit 16 Millionen Einwohnern.

Noch immer gibt es tausende illegal errichtete Gebäude, die nicht erdbebensicher sind. Jahrzehntelang wucherte die Stadt unkontrolliert. Beim letzten Beben 1999 hatte die Stadt sechs Millionen weniger Einwohner als heute. Viele der Neuankömmlinge berufen sich auf ein Gewohnheitsrecht aus osmanischer Zeit, wonach ein Haus, das über Nacht errichtet worden sei, nicht mehr abgerissen werden dürfe. Die meisten dieser "Gecekondular" sind nicht erdbebensicher.

400.000 Gebäude nicht erdbebensicher

Das Bürgermeisteramt von Istanbul geht davon aus, dass 400.000 Gebäude in der Stadt nicht erdbebensicher sind und rund 30.000 kollabieren könnten. Ein Abgeordneter der CHP kritisierte, die Regierung habe jahrelang Geld von Erdbebensteuern dazu zweckentfremdet, um Straßen und Einkaufszentren zu bauen. Experten gehen davon aus, dass es ab einer Stärke von 7,0 zu massiven Zerstörungen kommen kann.

Istanbul ist wie kaum eine andere Großstadt erdbebengefährdet, da rund um das Marmarameer die europäische und asiatische Platte aufeinandertreffen. In der Region haben sich seit einiger Zeit erhebliche tektonische Spannungen aufgebaut, die weitere Erdbeben wahrscheinlich machen. (Philipp Mattheis aus Istanbul, 27.9.2019)