Mit einem frischen Blick von außen besehen, war der österreichische Wahlkampf bis zum Schluss gar nicht so substanzlos, findet der neue Korrespondent der "NZZ" in Wien, Ivo Mijnssen, in seinem Gastbeitrag.

Dass dies der inhaltsleerste, untergriffigste und schmutzigste Wahlkampf aller Zeiten sei, gilt in manchen Sphären der österreichischen Öffentlichkeit schon als Gemeinplatz. Als ausländischer Beobachter wundert man sich zuweilen über diese fast lustvoll zelebrierte Scham angesichts der mannigfaltigen "Grauslichkeiten", wobei von der auch medial bewirtschafteten Aufregung oft nicht viel Substanzielles übrig blieb.

Und doch verhandelte Österreich in den letzten vier Monaten grundlegende demokratiepolitische Fragen. Die Antworten blieben aber unbefriedigend.

Für den frisch aus der Schweiz übersiedelten Korrespondenten gab es keinen besseren Österreich-Lehrgang. Die aufwendig inszenierte konservativ-freiheitliche Regierungsharmonie wurde durch das Ibiza-Video jäh zerstört. Dieses vermittelte ein verstörendes Bild, das Misstrauen erzeugte, gegenüber den Parteien, den Institutionen, dem Staat. Es stärkte aber auch die Rolle der Medien – als Aufdecker, Brandbeschleuniger und Feindbild.

Nach dem Wahlkampf wird sich zeigen, welche Brücken zwischen den Parallelwelten trotz Wahlkampfs intakt geblieben sind.
Cartoon: Felix Grütsch

Das politische System brach unter dem Ibiza-Schock aber nicht zusammen. Vielmehr war es die Beamtenschaft, die zur letzten Bastion des Vertrauens wurden, zum ruhenden Pol: Die Begeisterung über die Einsetzung einer Expertenregierung gehört wohl zu jenen österreichischen Eigenheiten, die man erst mit den Jahren wirklich verstehen kann. Zu beeindrucken vermag die zu Fleisch gewordene Seriosität allemal, etwa während Wolfgang Peschorns Auftritt in der "ZiB 2". "Verwalten ist Gestalten", sagte er im Studio immer wieder.

Freies Spiel der Kräfte

Der Leitsatz zeigt aber auch die Grenzen der Experten auf: Die Weigerung des Kabinetts Bierlein, sich politisch zu exponieren, hat ihre Schattenseiten. Heikle Fragen wurden vertagt, hinter den Kulissen geregelt – oder im freien Spiel der Kräfte des Parlaments durch opportunistische Mehrheiten entschieden. Sosehr sich manche Österreicher die Abschaffung der Politik wünschen würden, kann nur eine demokratisch gewählte Regierung mit einem klaren Programm wirklich Weichen stellen.

Eine solche wird aller Voraussicht nach wieder Sebastian Kurz anführen, ein Mann, der einst gelobte, mit den Untugenden des österreichischen Systems aufzuräumen. Dass sein Erneuerungsversprechen weiterhin ankommt, ist eine kommunikative Meisterleistung. Kurz und sein mediengewandtes Team haben es geschafft, die Frage der Mitverantwortung am Debakel der freiheitlichen Regierungsbeteiligung völlig zu unterdrücken.

Die Abwahl durch das Parlament half dabei. Statt Aufklärung gab es nun gegenseitige Vorwürfe – und eine klare Positionierung: Der alt-neue Kanzler und das Volk gegen Politiker und Medien. Damit nahmen die Türkisen bewusst in Kauf, das Misstrauen weiter zu schüren. Doch Wahlkampf und Aufklärung vertragen sich schlecht.

Politisch war diese Polarisierung ein erfolgversprechendes Rezept. Die Öffentlichkeit in Österreich ist fragmentiert, war es wohl schon immer. Doch die Zielgerichtetheit, mit der die Parteien an der Stärkung dieser Tendenz arbeiteten, verblüfft. FPÖ und ÖVP haben dabei einen großen Vorsprung auf die SPÖ, die erst langsam aufholt.

Erfolgreiche Polarisierung

Das Facebook-Imperium von Strache und FPÖ-TV, die Kurz-Bewegung und ihre 300.000 Unterstützer, die sie über Social Media, E-Mail und per Whatsapp anspricht, sind eine gewichtige Basis – als Wähler, Freiwillige und Werber. Die direkte Kommunikation gibt den Parteien großen Einfluss auf die Meinungsbildung, und sie immunisiert gegen Kritik von außen. Die Kehrseite ist eine starke Neigung, Kritik pauschal als "Schmutzkübelkampagne" oder sogar "politischen Auftragsmord" darzustellen.

Die Parallel-Öffentlichkeit der Partei verhinderte mit, dass die FPÖ kollabierte. Die Selbstimmunisierung führte auch dazu, dass der Druck der konventionellen Medien oft abperlte, die politischen Antworten schwach und vage blieben. Die wichtigen Diskussionen über dubiose Spendenpraktiken, Postenschacher oder den Schutz von Österreichs Demokratie gegen Angriffe von außen blieben oft gehässig und oberflächlich.

Falter und ÖVP schaukelten sich durch Zuspitzungen und Gesprächsverweigerung gegenseitig bis zu Gerichtsklagen hoch, was dem demokratiepolitisch zentralen Thema der Transparenz bei der Parteienfinanzierung einen Bärendienst erwies. Zumindest teilweise kehrten beide zum Dialog zurück.

Die Einsicht, dass mit fragmentierten Öffentlichkeiten allein kein Staat zu machen ist, scheint sich auch in den letzten Wochen des Wahlkampfs durchzusetzen. In TV-Duellen, Elefantenrunden und Zeitungen wurde zuletzt doch noch über Zukunftsthemen wie Bildung, Pflege und Sicherheit gestritten. Dies ist zwar noch kein Dialog, aber doch eine Voraussetzung dafür, dass sich Unentschlossene und potenzielle Nichtwähler ein Bild machen können. Blieben sie den Urnen aus Enttäuschung oder Misstrauen fern, wäre dies eine der fatalsten Folgen des Ibiza-Schocks.

Nach dem 29. September müssen die Parteien definitiv wieder ins Gespräch kommen, um eine Regierungskoalition zu bilden. Spätestens dann wird sich zeigen, welche Brücken zwischen den Parallelwelten trotz Wahlkampfs intakt geblieben sind. (Ivo Mijnssen, 28.9.2019)