Mephisto (Bibiana Beglau) und Dr. Faust (Werner Wölbern) in einem famosen "Faust"-Mahlwerk am Burgtheater.

Foto: APA / BURGTHEATER / MATTHIAS HORN

Sollte Goethes Faust jemals eine Studierstube besessen haben, so hat er sie gewiss an andere Bedürftige weitervermietet. Der Deutschen liebster Grübler hat die ihm bekannte Welt bis an ihre äußersten Ränder erschlossen. Nun ist er prompt an Europas Außengrenze angekommen. Im Wiener Burgtheater erhebt sich eine schwarze Aussichtsplattform (Bühne: Aleksandar Denić). Saurer Regen benagt ihre Aufbauten. Ein riesiger Kran ragt finster in die Nacht, und über der weiblichen Silhouette einer Zigarettenreklame prangt zynisch der Wahlspruch "Honi soit qui mal y pense".

Martin Kušej zeichnet in seiner "Faust"-Inszenierung ein düsteres Bild der Festung Europa.
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Willkommen in der Festung Europa! Martin Kušejs eigenwillige "Faust"-Deutung hat, gut fünf Jahre nach ihrer Entstehung, den Transfer von München nach Wien erstaunlich gut überstanden. Herr Faust (Werner Wölbern) beginnt seine Suche nach dem Stoff, der ihn und die ganze übrige Welt zusammenhält, ausgerechnet im Nassraum; vor dem Mini-Mond einer Kugellampe. Faust wäscht sich die Hände, um einer möglichen Infektion mit Bildungsbazillen vorzubeugen.

Ein schizophrener Faust

Eine Sonne wird über diesem Klein-Lampedusa sowieso niemals aufgehen. Dafür zucken wilde Dynamitblitze. Der bullige Gelehrte mit den überzogenen Erkenntnisansprüchen räumt schon früh im Drama Philemon und Baucis aus dem Weg. In Albert Ostermaiers "Faust"-Fassung purzeln der Tragödie erster und zweiter Teil gehörig ineinander. So kommt es auch, dass Faust als unternehmender Geist sich selbst als Zauderer überholt: ein klarer Fall von Schizophrenie. Dafür darf er mit der biblischen Lilith Liebe machen, oder er erlebt die Walpurgisnacht als ohrenbetäubenden Techno-Rave.

Frau Mephisto (Bibiana Beglau) verfolgt den ratlosen Faust (Werner Wölbern).
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Wie in einer Trommel drehen sich die "Faust"-Begebenheiten als Episoden einer rätselhaften Nacht. Frau Mephisto (Bibiana Beglau) aber schmuggelt sich unscheinbar ins Drama ein. Barfuß im Sprühregen, die Verse (fremde und eigene) rotzend und kotzend – später dann im Straps vor ihrem Streber paradierend.

Mephisto als Sexualberater

Faust wird im Europa der Sicherheitsüberwacher in den Bauch geschossen. Mephisto in der Schlachterschürze macht das letale Malheur wieder gut. Und ganz allmählich kommt auch Kušejs Klassikererzählung perfekt auf Schiene. Sie nimmt mächtig Fahrt auf und zelebriert die Geschichte als sinistre Endzeitparabel, darüber hinaus aber auch als Nummernrevue zweier Clowns.

Mephisto pfeift wundermilde "I‘m just a jealous guy". Er ist das kolossale Opfer der Schöpfungsgeschichte, mit furchtbaren Stigmata am Rücken.

Zugleich gibt er als zügelloses Subjekt der Begierde Herrn Fausts Sexualberater. Dann tänzelt und scharwenzelt er sich in das Herz und in den Mundraum der schrillsten Hexe (Marie-Luise Stockinger). Er ist als bestrumpfte Domina der Schrecken aller Studierstuben: ein Tunichtgut mit Rossschwanz. Ein zügelloser Anarchist, der jeden Maschendrahtzaun als Unterlage für alberne Bettgymnastik gebraucht. Die Beglau bildet das eigentliche, alberne, wild hüpfende Herz der Inszenierung.

Koks und Waffen in der Festung Europa

Deren zweiten Glutkern findet man in der Gretchen-Tragödie. Andrea Wenzl tritt dem Schwerenöter Faust gleichsam unbewaffnet gegenüber: staunenden Blicks, mit brütendem Ernst. Rasch flackert ihre Lust auf, dann badet sie in Rosen, ihr Zimmer ein gleißender Schrein der Unschuld. Ihre Mutter (Barbara Petritsch) lässt unduldsam das Buttermesser blitzen. Irgendwann liegt das Kind zitternd in seinem Blut. Der Täter Faust kann weitermachen: kann expandieren, Koks und Waffen liefern und Kindermärtyrer in ihren Sprengstoffgürteln bestaunen. Im Festungsbau Europa herrscht eben Bombenstimmung.

Andrea Wenzl spielt Margarete.
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Von einem Bombenerfolg kann man getrost auch mit Blick auf Kušejs "Faust"-Recycling sprechen. Der neue Burgtheaterdirektor wirft die Seiten des Reclam-Textes mit bösem Gelächter in die Luft.

Wer nach humanistischen Frohbotschaften giert oder edles Versgeklingel hören möchte, ist hier definitiv fehl am Platz. Wer Augen hat zu sehen, erlebt einen pessimistischen Kommentar zur Zeit, ein famoses "Faust"-Mahlwerk. Den einen oder anderen Buhruf darf Kušej als Überbringer schlechter Nachrichten getrost in Kauf nehmen. (Ronald Pohl, 28.9.2019)