Gerstls "Selbstbildnis als Halbakt".
Foto: Manfred Thumberger

Erhaben steht er da und starrt. Von einer hellen Aura umgeben, die sich von einem immer dunkler werdenden Blau abhebt, tritt er fast schwebend hervor. Seine Arme liegen eng an dem nackten Oberkörper, um seine Hüften trägt er ein weißes Tuch. Einem Messias ähnlich stellte sich Richard Gerstl in Selbstbildnis als Halbakt dar, das zwischen 1902 und 1904 entstand, und wirkt dabei so, als ob er etwas fordern würde.

In der umfassenden Schau "Richard Gerstl / Inspiration – Vermächtnis" werden etwa 50 Werke des österreichischen Künstlers mit Werken anderer Künstler kontextualisiert. So blickt von rechts Egon Schieles 1912 entstandenes Selbstbildnis mit hochgezogener nackter Schulter auf die ungewöhnliche Erscheinung Gerstls: Mit in Falten gelegter Stirn und leicht geöffnetem Mund scheint Schiele das Bild seines Zeitgenossen zu kommentieren – schockiert und fasziniert zugleich.

Erster Expressionist Österreichs

Beide Künstler beginnen fast zeitgleich – Gerstl wird 1883, Schiele 1890 geboren – um die Jahrhundertwende mit ihrer Kunst, studieren an der Akademie der bildenden Künste in Wien und stehen dem konservativem Kunstverständnis kritisch gegenüber. Gerstl schafft sogar vor Schiele die ersten expressionistischen Arbeiten in Österreich.

Doch sein Leben endet abrupt: Nach einer Affäre mit Mathilde Schönberg, die sich schließlich aber wieder für ihren Mann, den Komponisten Arnold Schönberg, entschied, rutscht Gerstl in die Isolation und begeht 1908 – im Alter von nur 25 Jahren – Suizid.

Sein Œuvre bleibt also mit insgesamt etwa 70 Arbeiten relativ klein, vieles wurde erst spät entdeckt und über Jahre zusammengetragen. Gerstl galt als widerspenstiger Autodidakt, sein Stil als wechselhaft und schwierig einzuordnen. In Kooperation mit dem Kunsthaus Zug, das nach dem Leopold-Museum die größte Gerstl-Sammlung besitzt, kuratierte der Direktor des Leopold-Museums, Hans-Peter Wipplinger, gemeinsam mit Diethard Leopold die Schau. Nach internationalen Ausstellungen in Frankfurt und New York wird der Künstler nun nach über 25 Jahren wieder in dieser Dimension in Österreich gezeigt.

Foto: Manfred Thumberger

Starke Porträts

Nicht chronologisch, sondern thematisch werden die insgesamt über 200 Exponate in zehn Räumen gruppiert und beziehen sich so aufeinander. Darunter auch einige Landschaftsbilder Gerstls, wobei die Porträtarbeiten die Schau dominieren – und auch inhaltlich stärker sind. So lacht da sein fast pointillistisches Selbstporträt neben jenem des streng blickenden Vincent Van Gogh, der eines seiner Vorbilder war.

Aber auch zeitgenössische Arbeiten, wie von Günter Brus, Arnulf Rainer oder Georg Baselitz reflektieren Gerstls faszinierend modernen Ansatz und zeigen wiederum seine Arbeit als Inspirationsquelle. Für Baselitz soll er ein großes Idol gewesen sein, mehr als Klimt oder Schiele.

Wegschauen unmöglich

In einem der zentralen Werke der Schau, Gruppenbild mit Schönberg, sind die Gesichter zu Fratzen verzerrt, dicke Pinselstriche verwischen die Figuren. Flankiert von abstrakten Gemälden Willem de Koonings, Otto Muehls und Martha Jungwirths – wohlbemerkt eine der wenigen Künstlerinnen der Ausstellung –, scheint sich Gerstls Werk in den anderen Bildern immer weiter zu fragmentieren.

Man fragt sich, wie sich sein künstlerisches Werk entwickelt hätte. Hätte er sich auf einen Stil festgelegt? In seinem wohl letzten Bild malt sich der Künstler als stehenden Akt. Mit in die Hüfte gestütztem Arm und offener Körperhaltung, steht er da, sein Blick dunkel und voller Schmerz. Im Hintergrund winden sich blaue Spiralen, wie unruhige Hirngespinste. Am liebsten würde man den Blick abwenden, kann aber nicht. (Katharina Rustler, 29.9.2019)