Wenn in Kenia die Sonne aufgeht und Zebras, Nashörner und Antilopen das neue Baby des Königs der Löwen begrüßen, bindet Thomas Potzinger seine Laufschuhe und rennt los. Manchmal auf Gras, meistens auf rotem Sand, bei Regen im Gatsch, aber nie auf Asphalt. Straßen dieser Bauart gibt's in der Landschaft rund um Iten nur wenige, dafür umso mehr Weltklasse-Langstreckenläufer. Wegen ihnen ist der Steirer im Februar 2017 hierhergezogen – um von den Besten zu lernen.

Spätstarter

Potzinger hat keine Zeit zu verlieren. Er ist ein Spätberufener. Der Zerspanungstechniker hat jahrelang in der Metallindustrie gearbeitet, pflegte abseits davon einen, nun ja, ungesunden Lebensstil. 2010 dann der Sinneswandel: Er fing zu laufen an und steckte sich ein hohes Ziel: Olympia. "Ich wusste nicht, was das bedeutet", sagt der 34-Jährige dem STANDARD. Bis er die Kenianer auf Youtube sah: "Ich dachte, die fliegen." Seither reifte der Entschluss, den Lebensmittelpunkt zu verlegen und sich voll aufs Training zu konzentrieren. 2013 flog der Weizer erstmals nach Kenia: "Ich habe bereits am ersten Tag gespürt: Hier gehöre ich hin, hier will ich leben."

In den folgenden Jahren absolvierte er vereinzelte Praktika im Wunschland, während er in Österreich die Abendmatura nachholte und das Bachelor- sowie Masterstudium Gesundheitsmanagement im Tourismus an der Fachhochschule Joanneum in Bad Gleichenberg abschloss. Seit 2017 lebt er nun dauerhaft in Afrika, Kurzurlaube im Heimatland ausgenommen.

Potzinger läuft meist auf rotem Sand. Sein Tagesablauf ist simpel: schlafen, essen, trainieren.
Privat

Viele hätten ihn für verrückt gehalten, die Zelte abzubrechen. Dabei folge er nur seiner Leidenschaft: "Daheim bin ich allen anderen auf die Nerven gegangen, weil ich 24 Stunden am Tag ans Laufen denke." In Kenia sei das anders, in Iten sowieso. Die Stadt mit rund 40.000 Einwohnern bezeichnet sich als "Home of Champions". Zu lesen auf dem Straßenbogen an der Eingangspforte in die Athleten-Hochburg im kenianischen Hochland, 320 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Nairobi. Ehemalige oder aktuelle Weltmeister, Olympia- und Marathonsieger – alle rennen hier ihre Runden. Als würden sich die Fußballer Lionel Messi, Cristiano Ronaldo und Kylian Mbappé in Steyr treffen.

Laufen ist in Kenia Volkssport Nummer eins. Vertreter des Landes gehören bei Großereignissen traditionell zu den Medaillenkandidaten auf Langstrecken. Darunter fallen Renndistanzen, die länger als eine englische Meile oder 1.609 Meter sind.

Die Kinder wachsen damit auf, rennen weite Wege in die Schule. Noch ein Erfolgsrezept sei der Ehrgeiz, mit dem Sport der Armutsfalle zu entkommen. "Um den Wien-Marathon und damit 15.000 Euro zu gewinnen, musst du dich 15 Jahre wie ein Trottel abrackern. Ein Europäer macht das nicht, für einen Kenianer ist das viel Geld."

Aller Anfang ist schwer

Potzinger musste in Iten anfangs Lehrgeld bezahlen. "Ohne aerobe Basis geht's einfach nicht", sagt er. Diese Ausdauer müsse man sich über Jahre erarbeiten. In Österreich erntete er trotzdem Spott: "Viele dachten: Wenn ich ein Jahr in Kenia verbringe, werde ich gleich zum Kenianer."

So einfach geht das freilich nicht. Der Körper müsse sich erst anpassen. Iten liegt auf 2.400 Meter Seehöhe. Kurzfristig sorgt das für Atemnot, langfristig bildet der Körper als Ausgleich zur sauerstoffärmeren Luft mehr rote Blutkörperchen, was wiederum die Ausdauer fördert. Auch das Essen sei gewöhnungsbedürftig, zu kohlenhydratreich und eiweißarm. Nach sieben Monaten wog der Weizer nur noch 50 Kilo.

Der Tagesablauf lautet: schlafen, trainieren und essen. Das Training sei mitunter eintönig: "So lange wie möglich so schnell wie möglich laufen." Der Österreicher spult 150 Kilometer in der Woche ab. Er könne mit Frauen und schwächeren Männern mithalten, sagt er.

Mittlerweile kennen ihn die Stadtbewohner, nennen ihn nicht mehr "Mzungu", den weißen Mann (2016 hat ein kenianischer Fernsehsender noch einen TV-Beitrag über die besondere Erscheinung in Iten ausgestrahlt). Und sie verstehen einander auch. Englisch könne fast jeder. Der Auswanderer beherrscht zudem Swahili, die zweite Amtssprache. Das Problem: Jeder Stamm habe noch zig andere Dialekte.

Ein kenianischer Fernsehsender drehte 2016 einen Beitrag über Potzinger.
Thomas Manuel Potzinger

"Mir fehlen zehn Jahre Training", sagt Potzinger. Er gebe den Olympiatraum nicht auf, der sei aber unrealistisch. Zumal das Marathonlimit auf 2:11:30 Stunden hochgeschraubt wurde. Diese vom internationalen Leichtathletikverband festgelegte Zeit müssen die Sportler knacken, um in Tokio 2020 starten zu dürfen. Der Steirer traut sich langfristig höchstens 2:18 zu, seine Bestzeit liegt bei 2:42. Und: "2:12 können in Iten 300 Leute rennen."

Trotzdem könnte Potzinger in Japan dabei sein. Denn er hat in Kenia Kontakte geknüpft. Er unterstützt den italienischen Starcoach Renato Canova und trainiert nun dessen Schützling Yasemin Can, dreifache Crosslauf-Europameisterin im Einzel und Doppeleuropameisterin 2016 über 5.000 und 10.000 Meter. Über diese beiden Distanzen hat die Türkin kenianischer Abstammung auch bereits das Olympiaticket in der Tasche, sie fehlt bei der laufenden Leichtathletik-WM in Doha nur verletzungsbedingt.

Potzinger sieht sich künftig als Trainer, absolviert aktuell eine Ausbildung dafür. 2030 wolle er die weltbesten Marathonläufer und auch österreichische Talente betreuen. "Aber ohne Erfolg fehlt die Glaubwürdigkeit", sagt er.

Potzinger trainiert Yasemin Can (im Vordergrund).
Privat

Diese will der Weizer erlangen, indem er sich erste Sporen als Coach verdient. Can sei der Anfang, 2020 sollen die ersten Kenianer dazukommen. Positiver Nebeneffekt: Der türkische Verband bezahlt Potzinger. Die Lebenshaltungskosten betragen zwar nur bis zu 300 Euro im Monat, bisher war er jedoch auf kleinere Sponsoren wie Mandlbauer, Gigasport und Austria Druckguss angewiesen und verbrauchte sein Erspartes. Kritik hört er trotzdem regelmäßig: "Denen sage ich: Leb du mal drei Monate mit einem Plumpsklo und teilweise ohne Strom."

Potzinger lebt in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, mittlerweile auch mit fließendem Wasser. Er brauche keinen Fernseher oder ein großes Sofa. Das kommt bei Schlafen, Essen und Trainieren nun mal nicht vor. Nur zwei Sachen vermisst er: tiefgründige Gespräche, weil diese in der Laufgemeinschaft nur schwer möglich seien. Und: "Manchmal würde ich gerne auf Asphalt laufen." (Andreas Gstaltmeyr, 30.9.2019)