Die beiden Sieger Sebastian Kurz (links) und Werner Kogler (rechts) schenkten einander im Wahlkampf nichts.

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Ohrenbetäubender Jubel wurde am Wahlsonntag nur bei zwei Parteien laut: angesichts knapp 38 Prozent bei der ÖVP und rund 14 Prozent bei den Grünen. Eine weitere Parallele, die sich bei den beiden Wahlgewinnern mit den größten Zuwächsen auftat: Prompt stimmten die Anhänger minutenlange Sprechchöre für ihre Frontleute an: "Kanzler Kurz!, Kanzler Kurz!, Kanzler Kurz!", skandierte man im Kursalon Hübner, im Wiener Metropol schrie man sich mit "Werner! Werner! Werner!" die Seele aus dem Leib.

Euphorie versus Skepsis

Seitdem gilt Türkis-Grün als durchaus wahrscheinliche Koalitionsvariante – allerdings bergen Regierungsgespräche auch die Gefahr, dass bloß Scheinverhandlungen geführt werden. Denn geschenkt haben sich ÖVP-Obmann Sebastian Kurz und Grünen-Chef Werner Kogler im Wahlkampf nichts – und inhaltlich trennen sie immer noch Welten.

Ebenfalls schwer vom Tisch zu wischen: Gemäß einer Isa-Sora-Umfrage für den ORF wünschen sich nur zwanzig Prozent der ÖVP-Wähler eine Koalition mit Grün – umgekehrt hält sich auch unter den Ökos die Begeisterung über einen türkisen Seniorpartner in Grenzen. Dennoch: Die Chance auf Türkis-Grün lebt – daher ein Überblick, was dafür und was dagegen spricht.

FÜR

Einen psychologischen Vorteil der Grünen gilt es bei anstehenden Koalitionsverhandlungen nicht zu unterschätzen: Anders als Rot und Blau waren sie, bis vor kurzem noch totgeglaubt, am Sturz von Kanzler Sebastian Kurz im Frühsommer nicht im Mindesten beteiligt – und was diese Niederlage betrifft, hat der nun mit Rekordabstand stimmenstärkste Parteichef aller Zeiten wohl ein Elefantengedächtnis.

Denn im Wahlkampf skizzierte Grünen-Chef Werner Kogler, wie sich seine Ökos im Nationalrat gegenüber Kurz verhalten hätten: Erst mithilfe des Bundespräsidenten auf den ÖVP-Chef einwirken, dass bitte auch er nach der Ibiza-Koalition das Feld räumen möge – und nur dann, wenn es "hart auf hart gekommen wäre", hätte sich auch Grün dem Misstrauensvotum angeschlossen, so Kogler.

Worauf sich Kurz mit den Grünen ebenfalls verlassen könnte: dass seine bisher mit blau-braunen Einzelfällen durchzogene Regentschaft international in neuem Licht erstrahlen würde. Denn bei Grün gilt Rütteln an der Union als No-Go, ebenso jegliches Anstreifen an der NS-Ideologie.

Doch davor müsste sich der türkise Obmann auf Kogler und Co zubewegen: Denn mit ihnen würde in Brüssel der Reduktion von CO2-Emissionen Priorität eingeräumt, ebenso der Seenotrettung im Mittelmeer. Undenkbar auch, dass die Grünen die 1,50-Euro-Jobs für Asylwerber mittragen würden oder die separierten Schulklassen für Migrantenkids. In Kurzform ausgedrückt: Die ÖVP könnte so ihre christlich-soziale Seite wiederentdecken – und stärker akzentuieren.

Bei der Ressortverteilung wiederum drohen der machtbewussten Volkspartei keine argen Zugeständnisse: Die Öko-Partei bestünde auf das Umweltressort und würde bei Verkehr und Infrastruktur sowie bei der Bildung ein gewichtiges Wort mitreden. Aber kein Denken daran, dass sich der Juniorpartner am liebsten das einflussreiche Innenressort oder Finanzministerium krallen würde.

Das grüne Personal könnte sich mit den Veteranen Kogler und Rudi Anschober, seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten Landesrat in Oberösterreich, durchaus sehen lassen. Als ministrabel gelten auch Listenzweite Leonore Gewessler, weil als Ex-Global-2000-Geschäftsführerin mit großen Organisationen vertraut und auch mit den Abläufen in Brüssel. Die Wiener Listenvierte Eva Blimlinger wiederum wird als ehemalige Präsidentin der Universitätenkonferenz als mögliche Bildungsministerin gehandelt.

Und bei einer türkis-grünen Angelobung würde auch dem Bundespräsidenten das Unterbewusstsein wohl keinen Streich spielen. Zur Erinnerung: Bei Türkis-Blau hätte Alexander Van der Bellen einst beinahe vergessen, Heinz-Christian Strache (FPÖ) als Vizekanzler zu ernennen.

WIDER

Zwei politische Traumata wirken in Grünen-Chef Werner Kogler bis heute nach, die erfolgreichen Regierungsgesprächen mit der ÖVP im Weg stehen könnten: Zum Jahreswechsel 2002/03 platzten nach 16-stündiger Dauerverhandlung mit Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel die ersten schwarz-grünen Koalitionsverhandlungen der Geschichte – angeblich, weil der ÖVP-Chef den Ökos keine Zugeständnisse auch rund um die Eurofighter machen wollte. Fazit: Schüssel paktierte Schwarz-Blau II.

Koglers zweiter wunder Punkt: der Exodus der Grünen aus dem Nationalrat im Jahr 2017. Beides wollen er und die Grünen nie mehr erleben – das Misstrauen gegenüber der ÖVP sitzt bis heute tief. Doch bevor dem Land mit einer weiteren türkis-blauen "Ibiza-Koalition" neues Ungemach droht, will Kogler zumindest in Sondierungsgespräche eintreten.

Umgekehrt trauen auch die Bürgerlichen den Grünen kaum über den Weg. Für sie ist die grüne Basis, vor allem das Widerstandsnest in Wien, "linker als links" – aus ihrer Sicht handelt es sich um weltfremde Kapitalistenschrecks.

Dazu haben gerade rund 52 Prozent der Österreicher erneut Mitte rechts gewählt, ein Gutteil des Erfolgs der ÖVP von Sebastian Kurz ist auf blau-affine Stimmen zurückzuführen – deswegen muss der Waldviertler Meidlinger diese Klientel stets mitberücksichtigen.

Doch genau dieser Kurz-Kurs bedeutet für die Grünen ein enormes Risiko. Immerhin wurden sie von der Hälfte der Wählerschaft wegen ihrer unverhandelbaren Pflöcke beim Klimaschutz, bei der Bildung, den Menschenrechten gewählt. Keinesfalls werden sie sich hier von Kurz mit bloßer Überschriftenpolitik abspeisen lassen.

Denn die Grünen treten für eine CO2-Steuer ein, doch Kurz sieht da schon die ersten Konzerne abwandern und Pendler verarmen. Eine weitere grüne Vision ist die gemeinsame Schule – die Volkspartei hält am Gymnasium fest. Dazu wollen sich die Grünen nicht mit Kopftuchdebatten herumschlagen, die ÖVP hingegen verkauft genau das als Integrationspolitik.

Auch personell tun sich bei den beiden Parteien zwei Welten auf: Eine Sigi Maurer, Ex-Wissenschaftssprecherin und streitbare Kämpferin gegen Hass im Netz, ist für Kurz nicht ministrabel. Derart klare Worte kamen dem ÖVP-Chef bei Ex-Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) 17 Monate lang nicht über die Lippen.

Und bei einer weiteren Personalie könnte es sich arg spießen: Weil die Grünen garantiert das Umweltministerium für sich beanspruchen, müsste zuerst Elisabeth Köstinger auf ein anderes Amt weggelobt werden. Doch die Vertraute von Kurz gilt bei einer anderen wichtigen ÖVP-Klientel als bestens angeschrieben und daher als unverzichtbar – und zwar bei den Landwirten. (Marie-Theres Egyed, Nina Weißensteiner, 30.9.2019)