Eine Spinne unter der Lupe ist ein Gegenmittel gegen Spinnenangst, sagt Jörg Wunderlich – hier mit einer Zitterspinne.
Wolfgang Bäumer

Der 79-jährige Jörg Wunderlich ist einer von wenigen Palöoarachnologen weltweit, also Spezialist für fossile Spinnen. Der Deutsche hat rund 1500 Arten entdeckt und beschrieben, darunter viele vorzeitliche, in Bernstein konservierte Spinnen. Er ist überzeugt: Die Achtbeiner bekommen nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit.

STANDARD: Warum machen uns Spinnen so bange?

Wunderlich: Furcht und Abscheu vor kleinen, schnellen, haarigen Objekten haben eine lange Tradition. Instinktiv schrecken wir zurück wie unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen. Dieses archaische Verhalten können wir beeinflussen, indem wir über Spinnen aufklären und die Begegnung mit ihnen suchen.

STANDARD: Was empfehlen Sie gegen Spinnenangst?

Wunderlich: Zunächst sich über diese faszinierenden Krabbeltiere zu informieren. Eine Kreuzspinne unter der Lupe, eine Vogelspinne auf dem Arm – das sind wirksame Gegenmittel. Ich selbst habe in Schulen Versuche gemacht und Schülern eine Vogelspinne auf die Hand gesetzt, dabei war die Faszination oft stärker als die Angst. Was mich überraschte: Jungen zeigten mehr Scheu als Mädchen. In anderen Regionen der Welt sind Spinnen sehr beliebt, zum Beispiel in Teilen Südostasiens, wo sie als Glücksbringer gelten und öffentlich Kämpfe Spinne gegen Spinne ausgetragen werden.

STANDARD: Die Fluginsekten schwinden weltweit dramatisch. Forscher befürchten, in den nächsten Jahrzehnten könnten weltweit 40 Prozent aller Insektenarten aussterben. Um die Spinnen sorgt sich keiner. Wie geht es Ihnen?

Wunderlich: Ich kenne keine Langzeitstudien, halte es aber für wahrscheinlich, dass sie in ähnlicher Weise betroffen sind wie die Insekten. Die Zahl der Individuen und der Arten dürfte stark abgenommen haben, zumindest in Mitteleuropa. Das wäre auch nachvollziehbar, schließlich ernähren sich fast alle Spinnen ausschließlich von Insekten.

STANDARD: Die Webspinnen sind die größte Ordnung der Spinnentiere, weltweit kennt man 50.000 Arten. Welche Bedeutung haben sie für den Menschen?

Die Springspinne kann mit ihren Augen ultraviolettes Licht wahrnehmen, ihre Netzhaut verschieben und dank ihres räumlichen Sehvermögens Beutetiere gezielt anspringen. Hier ein Exemplar von "Aelurillus lucasi", heimisch auf den Kanarischen Inseln.
Ernst Klimsa

Wunderlich: Erstens: Sie tun uns nichts. Fast alle besitzen Giftdrüsen, aber hierzulande gibt es keine Art, die uns umbringen könnte. Weniger als 20 Arten sind gefährlich, und die leben fast alle in den Tropen. Zweitens: Webspinnen sind nützlich. Als Erbeuter vieler Insekten, unter anderem von Stechmücken in Gebäuden – man denke nur an die Zitterspinne -, kommt ihnen eine große ökologische Bedeutung zu.

STANDARD: Sie sagen, Spinnen seien winzige biologische Wunderwerke.

Wunderlich: Ja, sie können Erstaunliches: weben, springen, zittern, tanzen, winken, trommeln, hungern, zischen, Tunnel graben, Taucherglocken bauen, Seide auf Fressopfer speien, kopfüber auf spiegelglatten Flächen krabbeln, rotieren und Saltos schlagen. Manche laufen auf dem Wasser, andere besitzen Augen, die wie Zoomobjektive funktionieren. Fliegen können sie auch, obwohl Spinnen keine Flügel haben. Es gibt sogar Arten, die als Teil-Veganer leben und Pollen verzehren.

STANDARD: Manche Spinnen pflegen bizarre Liebesrituale.

Wunderlich: In der Tat ist das Fortpflanzungsverhalten der Spinnen einzigartig im Tierreich. Die Männchen gelangen ohne Penis zum Ziel und werden bei manchen Arten nach dem Liebesakt vom Weibchen verspeist, wie bei der Schwarzen Witwe, die ihren Namen zu Recht trägt.

STANDARD: Als Paläoarachnologe haben Sie ein Problem: Sie können sich fachlich kaum austauschen.

Wunderlich: Ich kenne weltweit nur ganz wenige Kollegen, die sich mit fossilen Spinnen befassen. Die Paläoarachnologie ist ein junges Forschungsgebiet, es gibt noch keine speziellen Fachblätter, Kongresse oder Institute.

STANDARD: Wie kamen Sie zu dieser Wissenschaft?

Wunderlich: Ich konnte viele Merkmale und Unterschiede anhand der heutigen Arten nicht ausreichend erklären und beschreiben. Wichtige Fragen zur Evolution und Systematik blieben offen, auch die ungewöhnliche Verbreitung einiger Gruppen bereitete mir Kopfzerbrechen. So fing ich an, Versteinerungen und Bernsteineinschlüsse zu untersuchen, wobei mir mehr als 100.000 Spinnen vor allem in Baltischem Bernstein vorlagen.

Fossilien geben Einblicke in die Spinnenevolution. Dieses 2,4 Millimeter große Weibchen der Art Chimerarachne yingi wurde 2018 in Burmesischem Bernstein entdeckt.
Bo Wang

STANDARD: Sie haben rund 1500 Arten entdeckt und beschrieben, die fossilen Exemplare eingeschlossen – das ist Platz drei hinter Eugène Simon (3800 Arten) und Norman I. Platnick (1800 Arten). Was fasziniert Sie so an Spinnen?

Wunderlich: Auf den ersten Blick sehen sich viele Arten sehr ähnlich, aber wenn man genauer hinschaut, entdeckt man eine enorme Vielfalt in Gestalt, Färbung, Größe und Verhalten. Auch die Anpassung an Lebensräume ist atemberaubend. Spinnen finden wir in tiefen Höhlen, auf Berggipfeln, unter Wasser. Sie haben es geschafft, alle Kanarischen Inseln zu besiedeln. Die meisten Arten sind Endemiten, das bedeutet, es gibt sie nirgendwo sonst auf der Welt.

STANDARD: Im Vorjahr ist in Burmesischem Bernstein aus Myanmar eine geschwänzte Spinne entdeckt worden.

Wunderlich: Ein sensationeller Fund! Das 100 Millionen Jahre alte Fossil erinnert an einen Skorpion, hat aber keinen Giftstachel, der für Skorpione typisch ist. Nahe der Schwanzwurzel befinden sich gut ausgebildete Spinnwarzen – das wohl wichtigste Merkmal der Webspinnen. Diese Spinne hat es bis ins Erdmittelalter geschafft, danach wurden keine geschwänzten Vertreter mehr nachgewiesen.Wir haben also ein fossiles Bindeglied gefunden, das belegt, dass die heutigen Skorpione und Webspinnen einen gemeinsamen Vorläufer haben.

STANDARD: Welche Erkenntnisse liefert die Paläoarachnologie noch?

Wunderlich: Während die Vogelspinnen seit 200 Millionen Jahren existieren, sind die Radnetzspinnen, Wolfsspinnen und Springspinnen sehr spät entstanden, nämlich nach dem Asteroideneinschlag vor 65 Millionen Jahren, der zum Aussterben der Dinosaurier und vieler weiterer Tiere und Pflanzen der Kreidezeit führte. Das ist eine brandneue Überraschung für die Wissenschaft, belegt durch Fossilien in Bernstein. Was uns Rätsel aufgibt: Vor über 40 Millionen Jahre lebten im Baltischen Bernsteinwald tropische Spinnen und Urspinnen, die heute auf der Nordhalbkugel ausgestorben sind. Seltsamerweise findet man sie noch auf der Südhalbkugel, in Australien, Südafrika und auf Madagaskar.

Jörg Wunderlich in seinem privaten Arachnologie-Labor in Hirschberg.
Wolfgang Bäumer

STANDARD: Welche Innovationen haben die Spinnen während der Evolution entwickelt?

Wunderlich: An erster Stelle stehen die vielfältigen Funktionen der Spinnfäden, mit denen raffinierteste Fangnetze gebaut werden. Neben Radnetzen gibt es Speinetze, Wurfnetze und Fußangeln, in denen sich Ameisen verfangen. Dicht gewebte Kokons schützen Spinneneier vor Parasiten. Alle Spinnen produzieren Weg- und Sicherheitsfäden, an denen sie sich nach Abstürzen emporhangeln können. Jungspinnen können einen Faden in die Luft schießen und an diesem viele hundert Kilometer fliegen, um neue Lebensräume zu erschließen. Die enorme Beweglichkeit und das Sprungvermögen vieler am Boden lebender Arten, zum Beispiel der Springspinnen, halte ich auch für eine wichtige Errungenschaft. Springspinnen haben außerdem exzellente Augen, die Farben unterscheiden, ultraviolettes Licht wahrnehmen, ihre Netzhaut verschieben und dank ihres räumlichen Sehvermögens Beutetiere gezielt anspringen können.

STANDARD: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Wunderlich: Vor allem: weniger Einsatz von Insektiziden, damit die Spinnen weniger begiftete Insekten fressen. Neonikotinoide stören ihre Lebensräume derart, dass sie sich nicht mehr ansiedeln. Wir brauchen auch mehr Geld, um die Vielfalt und Bedeutung der Spinnen genauer erforschen zu können. (Wolfgang Bäumer, 6.10.2019)