Sven-Eric Bechtolf hat nicht nur in stupend genau gearbeiteten Inszenierungen Andrea Breths als Schauspieler geglänzt: Neuerdings nennt er die Nöte werkgetreuer Künstler satirisch beim Namen.

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Der Spezies der weißen, alten Männer hat die Stunde leise, aber unüberhörbar geschlagen. Der Regisseur Herwig Burchard (63) ist ein vollkommen hoffnungsloser Fall. Im Dreispartenhaus der fiktiven deutschen Stadt Kobrück ("168.323 Einwohner") inszeniert er Opern wie Le nozze di Figaro vom Blatt. Doch noch wichtiger als die Probenarbeit scheinen ihm die abendlichen Gelage im teuersten Italiener am Platz. Die edelsten Tropfen rinnen in Burchard, das Fass, rückstandslos hinein. Der Mann ist und bleibt ein bodenloser Egoist.

Burchard hat es zum Provinz-Falstaff gebracht. Als solcher verhält er sich gegenüber dem Zeitgeist, vorsichtig gesprochen, skeptisch. Seinem liebsten Widersacher, dem Feuilletonchef des Lokalblättchens, schlägt er aus purer Unbeherrschtheit die Nase blutig. Sven-Eric Bechtolfs neuer Roman Nichts bleibt so, wie es wird spart nichts aus, was einem die Potentaten des Kulturbetriebs spätestens seit dem Aufpoppen von #MeToo in ihrer anmaßenden Selbstgefälligkeit so unerträglich macht.

Satirearbeit mit Schaufel

Ihr Beharren auf ein bisschen Lebenserfahrung im Kulturbetrieb ähnelt der Borniertheit, die sie anderen ankreiden. Ihr angeblich fundiertes Wissen um die Gesetzmäßigkeiten der Kunst? Führt sie umgehend zur Formulierung der erstbesten Plattitüde.

Belehrt Burchard seinen Vorgesetzten, den "Kobrücker" Intendanten namens Jacobi, über die herrschenden Moden, dann bedient er sich nur nächstliegender Klischees: "Wenn du heute mit Hänsel und Gretel bei der Kritik erfolgreich sein möchtest, muss die Hexe ein pädophiler Tenor sein, der Kinder beim Pilzesammeln filmt und in einem Hochhaus wohnt."

Käme dennoch Lebkuchen ins Spiel, so müsse der natürlich aus der "Nazistadt Nürnberg" stammen. Sollte Bechtolf, der erfahrene Theatermann als Erzähler, in der Tat versucht haben, sich und seine Generationskollegen auf die Schaufel zu nehmen – so muss ihm bei der Hubarbeit der Stiel abgebrochen sein. Das ist umso bedauerlicher, als Bechtolf mit fortlaufender Erzähldauer das Grimassenschneiden auch wieder sein lässt. Und zwischendurch sogar zu fesseln versteht.

In die Arme des geläuterten Wüstlings

Herwig Burchards "Niederlage" als Mozart-Regisseur der (mutmaßlich) Jean-Jacques-Ponnelle-Schule gipfelt – naturgemäß – in einer existenzgefährdenden Lebenskrise. Der alternde Mann gerät ins Straucheln. Das Gespenst der Flüchtigkeit vergällt ihm sogar die Möglichkeit einer jungen, unschuldigen Liebe zu einer bedeutend Jüngeren.

Ist es notwendig zu erwähnen, dass diese, erstens, wunderschön ist, zweitens, internationale Filmkarriere macht und, drittens, nach Absolvierung vielfältiger Irrungen und Wirrungen in Burchards immer klammer werdenden Armen landet? Im Bett eines geläuterten Wüstlings, der sich obendrein in sein renoviertes Haus in Apulien verkriecht. Und dort das Trauma der Kinderlosigkeit (sein Sohn starb jung) überwindet, indem er sich als Tagesvater völlig selbstlos der Aufzucht kleiner, knuffeliger Süditaliener zuwendet. Die Rolle der Mafia im stark ausgedachten Plot, der Burchard auch wieder zurück nach Kobrück führt, muss hier unerörtert bleiben.

Mehr Streichbares

Sven-Eric Bechtolf (61) ist ein atemberaubender Schauspieler und ein handwerklich versierter Regisseur. Als Festspielleiter in Salzburg hatte er vornehmlich die Arbeit anderer auszubaden. Als Erzähler hat er manches zu sagen, noch mehr aber wäre womöglich zu streichen gewesen.

Kurz vor der alles entscheidenden Liebesnacht schlüpft er in seinen Protagonisten. Was der auf dem Weg ins Schlafgemach zu sehen bekommt? "Er ahnt ihren schönen, schmalen Körper unter dem weißen Nachthemd und sieht ihre nackten Füße vor sich die Treppen erklimmen." Hedwig Courths-Mahler hätte dies nicht inniger auszudrücken vermocht. (Ronald Pohl, 1.10.2019)