Liverpool – Die Victoria Road in der britischen Kleinstadt Formby ist eine dieser geheimnisvollen Straßen, entlang derer die Zäune immer höher und die Sträucher immer dichter werden. Es ist die teuerste Wohngegend im Raum Liverpool. Hier stehen keine Häuser, hier stehen Anwesen. Dort, wo die Zäune niedrig sind, wird ein Gebäude verkauft, dessen imposanter Bau und riesige Fenster auf den ersten Blick an eine moderne Freikirche erinnern. Ein siebenstelliger Pfundbetrag wäre fällig, inkludiert ist prominente Nachbarschaft: 31 Hausnummern weiter, wo aus Zäunen eine hohe Mauer wurde, da wohnt ein gewisser Jürgen Klopp.
Im schläfrigen Formby werden die Schwarz- und Weißtöne der beißenden Ambivalenz des FC Liverpool zu britischem Nebelgrau. Der Champions-League-Sieger ist ein legendärer Traditionsklub und eine globale Geldmaschine. Er ist eine Bastion der Arbeiter und ein Magnet für Fußballtouristen. Er war ein Klub der Armen, er ist ein Spielzeug der Reichen. Formby ist eine Konstante. Hier lebten schon Kicker der Reds, als Bill Shankly sich und den Klub in den 1960er-Jahren in unerreichbare Dimensionen hob. Bis heute halten einige Profis dem Nobelort die Treue – und eben Klopp.
Im Pub
In letzter Zeit kommt der Trainer nicht mehr so oft ins Freshfield, in sein Stammpub, sagen die Stammgäste. Aber jeder hat eine Klopp-Geschichte erlebt. Es sind normale Geschichten über einen mehr als normalen Mann. Der herzliche Glatzkopf Stewie erzählt, wie der Barkeeper den Startrainer an der Bar vorziehen will – und dieser nicht nur dafür sorgt, dass zuerst alle anderen bestellen, sondern auch gleich die ganze Runde bezahlt. Kev berichtet in seinem herausfordernden Scouser-Akzent, wie sich Klopp für seinen Hund entschuldigt, obwohl dieser im Halbschlaf von einem anderen attackiert wurde. Der Besitzer des Pubs erzählt, wie ihm der Deutsche offenbart: "Paddy, du siehst aus wie der Typ in Shawshank Redemption!" Paddy hat das schon hunderte Male gehört. Er sieht wirklich aus wie der junge Tim Robbins.
Es kommen viele Fußballstars ins Freshfield, erst am Sonntag war Liverpool-Ikone Steven Gerrard da. Aber die (Ex-)Kicker sind abgehoben, sagen die Stammkunden. Kommen mit Entourage, gehen mit Entourage. Aber "Jurgen", der ist anders, da sind sich alle einig. Der hat den trockenen britischen Humor, der ist zugänglich, "der ist einer von uns". Hier im Freshfield kostet das Full English Breakfast sechs Pfund, der pensionierte Seemann Norman trinkt mit dem Ex-Polizisten Cozzy.
Zuhause
Vom Pub ist es eine Autominute zur Casa Klopp. Sieben Schlafzimmer, drei Wohnzimmer, Kino. Ein Trainer des FC Liverpool kann sich so etwas locker leisten, weil der Fußball mit Geld überschwemmt ist. TV-Rekordverträge, explodierende Merchandising-Einnahmen aus Absatzmärkten in aller Welt, absurde Preisgelder. Diese Marie muss natürlich irgendwoher kommen: aus den Taschen der Fans, herausgequetscht aus TV-Abos, Eintrittspreisen, Trikotkäufen.
"Die Fans haben den Klub, wie wir ihn heute kennen, erschaffen. Liverpool ist für seine besondere Atmosphäre bekannt", sagt Tore Hansen vom norwegischen Liverpool-Fanclub. Er hat gewissermaßen die Sicht von innen und außen. Skandinavien kam der Globalisierung zuvor, Liverpool und Manchester United sind in Norwegen schon längst beliebter als die einheimischen Klubs. Als das norwegische Fernsehen 1969 mit der Übertragung von englischem Fußball begann, legte es den Grundstein einer anhaltenden Leidenschaft. Bei wichtigen Spielen sind bis zu tausend Norweger im Stadion, schätzt Hansen.
Mit bösem Willen könnte man behaupten, es wären bald mehr Norweger als Kinder im Stadion. "Das Durchschnittsalter steigt ständig. Heute haben nicht viele Kinder das Geld, zu einem Spiel zu gehen", sagt Hansen, der mittlerweile in Liverpool lebt. Joe Blott bestätigt das. Er pilgert seit 52 Jahren an die Anfield Road, erzählt von 1977 gegen St. Etienne, von 2005 gegen Chelsea, von 2019 gegen Barcelona. "Es war einfach ein unfassbares Erlebnis." Pro Spiel gehen 1000 Tickets für neun Pfund an Fans, die eine Liverpooler Postleitzahl haben. "Wir müssen die Jungen ins Stadion kriegen. Sie wollen ihre Helden sehen", sagt Blott.
Der Großvater steht in ständigem Dialog mit den Fanverantwortlichen seines Herzensklubs, denn er ist Vorsitzender der Fanorganisation Spirit of Shankly. SOS wurde in der letzten Talsohle der wogenden Klubgeschichte geboren, als die Besitzer Tom Hicks und George Gillett den Verein ausgeblutet und verschuldet hatten.
Auf der Straße
SOS war an der Spitze der Proteste gegen Hicks und Gillett. 2010 verkaufte das Duo den Klub an die Fenway Sports Group. Diese entfesselte vor allem mit der Personalentscheidung Klopp das endlose Potenzial des 18-fachen Meisters. Doch bei allen Investitionen bleibt die FSG ein wirtschaftlich denkendes Unternehmen. Jüngst wollten die Verantwortlichen "Liverpool" als Marke schützen lassen – vorgeblich, um gegen die Flut an billigen Fakes aus Südostasien vorzugehen.
Bürgermeister Joe Anderson protestierte, vielen Fans stieß die Aktion sauer auf. In Liverpool gehört selbstdesignte, billigere Fanwäsche einfach dazu. "Die unabhängigen Händler sind Teil der Fankultur", sagt Blott. Der Antrag des FC wurde von den Behörden abgelehnt, die Stadt Liverpool sei "geografisch zu signifikant".
Nicht jeder ist mit Preisen und der Stimmung einverstanden. Mit dem A.F.C. Liverpool (das A steht für "affordable", auf Deutsch leistbar) und dem City of Liverpool FC gibt es zwei von frustrierten Fans abgespaltene Klubs. Aber Blott sagt, im Stadion entwickle sich viel in eine gute Richtung. "Man sieht wieder mehr jungen Einfluss, neue Lieder wie Allez allez allez verbreiten sich im ganzen Stadion." Das wird heute Abend (21 Uhr) auch der FC Salzburg hören – aber nicht so viele Jugendliche wie damals 1977, beim 3:1 gegen St. Etienne. (Martin Schauhuber aus Liverpool, 2.10.2019)