Feiern zum 70. Jahrestag der Staatsgründung Chinas.

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Vor 70 Jahren verkündete Mao Tse-tung vom Kaiserpalast am Platz des himmlischen Friedens aus die Gründung der Volksrepublik China. Vorangegangen waren Jahrzehnte des Bürgerkriegs und des Kriegs gegen Japan mit dutzenden Millionen Toten. Es folgten: Jahrzehnte kommunistischen Totalitarismus mit dutzenden Millionen Toten. Aber heute ist China eine industrielle Supermacht, eine militärische Großmacht und ein Anwärter auf die politische Führung der Welt.

Und: Es ist ein gigantisches Labor, in dem die Frage entschieden wird: Braucht man geistige Freiheit und Demokratie für wirtschaftlich-technologischen Fortschritt? Ist eine "autoritäre Marktwirtschaft" der demokratischen überlegen?

Ich war im Jahr 1982 das erste Mal in China. Es war die Zeit der ersten, zaghaften Versuche der marktwirtschaftlichen Reformen von Deng Xiaoping. Man zeigte uns stolz den ersten privaten Bauernmarkt mit ein paar verschrumpelten Karotten. Aber die letzte "Reform" von Mao, der "große Sprung nach vorn" (gewaltsame Industrialisierung), hatte mit circa 40 Millionen Hungertoten geendet. Peking war eine Stadt der Radfahrer, die in Zehnerreihen durch die Straßen fuhren. Auf dem flachen Land warfen die Bauern das Getreide auf die Straße, damit die Lastautos es "dreschen". Dörfer bestanden aus Lehmhütten. In der "Sonderwirtschaftszone" Shenzhen standen ein paar Baracken. Heute ist es eine 18-Millionen-Stadt. In Guilin zeigte man uns bewusst die unbrauchbaren Maschinen, die die planwirtschaftliche Zentralverwaltung geschickt hatte. Macht nichts, sagte der offizielle Begleiter, wir sind eine 5000 Jahre alte Kultur, wir werden den Westen einholen. Und zwar im "friedlichen Aufstieg", wie der offizielle Slogan lautete.

Die größte Herausforderung unserer Zeit

Seither hat sich der Wohlstand Chinas ver-x-facht, hunderte Millionen wurden aus bitterster Armut befreit. In den ersten Jahren nach der kommunistischen Machtübernahme wurden drei Millionen als "bourgeoise Elemente" erschossen. Heute gibt es Milliardäre, und wichtiger, eine breite Mittelschicht. Die früher völlig isolierten Chinesen reisen als Massentouristen durch die Welt. Und sie kehren selbstverständlich wieder heim.

Die wirtschaftliche Freiheit änderte jedoch nichts an der eisernen Kontrolle durch die Kommunistische Partei. Sie ist sogar noch beengender geworden durch die modernen Überwachungsmittel. 2020 soll in ganz Peking endgültig das System der "Sozialkreditpunkte" eingeführt werden. Lückenlose Überwachungssysteme mit Gesichtserkennung erlauben es, das Verhalten des Einzelnen zu bewerten. Wer nicht entspricht, bekommt keinen Job, keinen Kredit, dafür aber Schwierigkeiten. Das ist zutiefst verstörend, aber offenbar nicht für die meisten Chinesen. Denn es geht ihnen gut, besser denn je. Und etliche auf der ganzen Welt ziehen daraus den Schluss, dass man keine Freiheit des Denkens braucht, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Das chinesische Modell könnte das westliche ablösen.

Das wird so nicht kommen. Aber Chinas Aufstieg ist die größte Herausforderung unserer Zeit. (Hans Rauscher, 2.10.2019)