Sebastian Kurz hat ist einer Minderheitsregierung nicht abgeneigt, sollte sich das Koalitionsproblem nicht lösen lassen.

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Die ÖVP will mit allen Parteien Sondierungsgespräche führen, erklärte ihr Generalsekretär Karl Nehammer am Dienstag. Man hält sich alle Optionen offen. Eine Koalitionsbildung wird dennoch nicht leicht. Mit den Grünen und der SPÖ sind die thematischen Schnittmengen klein, während sich die FPÖ schon auf die Oppositionsrolle eingeschworen hat. Sollten die Gespräche nicht fruchten, hätte Sebastian Kurz noch eine weitere Option zur Verfügung: eine türkise Minderheitsregierung. Alle anderen Parteien würden in Opposition gehen. Seit Platzen der türkis-blauen Koalition hat Kurz immer wieder seine Sympathien für diese Variante ventiliert.

Die Grünen zeigten sich am Mittwoch offen für Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP.
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Ganz unabhängig von Kooperation wäre eine solche Regierung freilich nicht – im Gegenteil. Eine Minderheitsregierung ist auf die Stützung mindestens einer Oppositionsfraktion im Nationalrat angewiesen. Denn die Mehrheit der Abgeordneten hat die Möglichkeit, eine Regierung jederzeit durch ein erfolgreiches Misstrauensvotum zu stürzen. Diese Variante wäre definitiv ein Experiment. In Österreich gab es den bislang einzigen Versuch übrigens in grauer Vergangenheit: Von 1970 bis 1971 führte Bundeskanzler Bruno Kreisky eine SPÖ-Minderheitsregierung an. Gestützt wurden die Roten von der FPÖ im Abtausch gegen ein minderheitenfreundlicheres Wahlrecht.

Was aus Sicht der Akteure für und gegen eine ÖVP-Minderheitsregierung spricht:

FÜR

Eine Minderheitsregierung der ÖVP könnte im Nationalrat jederzeit von einem Oppositionsbündnis durch ein Misstrauensvotum abgewählt werden. Während dies oft als Argument gegen eine Minderheitsregierung angeführt wird, könnte es sich aus Sicht von Sebastian Kurz in Wahrheit um einen der Vorteile handeln. Nach dem Misstrauensvotum Ende Mai dieses Jahres inszenierte er sich monatelang als Opfer einer parlamentarischen Intrige und konnte SPÖ und FPÖ die Schuld an den Neuwahlen in die Schuhe schieben. Schon am Wahlsonntag erklärte ÖVP-Generalsekretär Karl Nehammer, dass just jene Parteien gravierende Verluste schrieben, die Kurz vom Kanzlerthron gestoßen hatten – also SPÖ und FPÖ, unterstützt durch die Liste Jetzt. Mit dem türkisen Narrativ "Rot-Blau hat bestimmt, das Volk wird entscheiden" konnte sich die ÖVP bei vielen Wählern als einzig verlässliche Kraft behaupten und fuhr einen strahlenden Sieg ein.

Sollte eine etwaige ÖVP-Minderheitsregierung von der Opposition abgewählt werden, könnte Kurz dieselbe Strategie noch einmal versuchen und sich wiederum als Stabilitätsanker anpreisen, um seinen Stimmanteil zu steigern. Und Kurz hat in den vergangenen Jahren schon zweimal bewiesen, dass er Neuwahlen provozieren kann, ohne dafür von der Bevölkerung abgestraft zu werden.

Doch nicht nur aus Sicht der ÖVP gibt es Gründe für diese Variante. Sollten sich die anderen Parteien nicht auf eine riskante Koalition mit der übermächtigen Volkspartei einlassen wollen, könnten sie ein Regieren mit wechselnden "Projektpartnerschaften" anregen, um die jeweiligen Schnittmengen mit der ÖVP-Regierung zu nutzen, ohne sich ihr auszuliefern. Mit der FPÖ kann die ÖVP das Projekt einer rechten Migrationspolitik akkordieren, während man der SPÖ in sozialpolitischen Belangen entgegenkommt und beide Parteien so bei der Stange hält. Mittelfristig ist das für FPÖ und SPÖ kein schlechtes Geschäft: Beide Parteien sind momentan nur mit sich selbst beschäftigt und haben kein Interesse daran, sich rasch wieder in Neuwahlen zu stürzen. Da wäre es doch besser, bei den eigenen Kernthemen Kompromisse mit der ÖVP auszuhandeln und sich informell für Minister einzusetzen, die auf Ausgleich setzen.

Und bei manchen Themen ließe sich sogar ein parlamentarisches Bündnis gegen die ÖVP schmieden. Ohne Koalitionsvertrag gilt das freie Spiel der Kräfte, was eine demokratiepolitische Belebung verspricht. Für jedes Gesetz bräuchte es im Nationalrat Überzeugungsarbeit, und wechselnde Mehrheiten könnten für gehörigen Schwung im Plenarsaal sorgen. Ein rücksichtsloses Drüberfahren würde es für die ÖVP nicht spielen: Sie ist und bleibt in der Minderheit.

WIDER

Eine ÖVP-Minderheitsregierung bedeutet: 100 Prozent der Minister für eine Partei, die nur 37 Prozent der Stimmen hinter sich hat. Das klingt unfair und ist aus Sicht der anderen Parteien nicht attraktiv. Wieso sollten SPÖ, FPÖ oder Grüne bereit sein, ein solches Machtungleichgewicht zu tolerieren? In einer richtigen Koalition könnten sie eigene Minister sowie den Vizekanzler stellen. In einem Koalitionsabkommen könnten sie überdies Pläne für die kommenden fünf Jahre fixieren und der ÖVP bindende Kompromisse abringen.

Außerdem in Österreich nie zu vergessen: Als Juniorpartner einer Regierung lassen sich parteiaffine Vertreter in maßgeblichen Institutionen der Republik platzieren – von der Nationalbank über den Verfassungsgerichtshof bis zur ÖBB. So lassen sich Sympathisanten mit reizvollen Posten versorgen, und der Einfluss auf die Gebarung staatlicher und staatsnaher Einrichtungen kann ausgeweitet werden.

In einer Minderheitsregierung würden derlei Schachzüge aus Sicht der anderen Parteien – als Oppositionsparteien – wesentlich schwieriger sein als in der Rolle als Regierungspartei. Rot, Blau und Grün fehlen schlicht die Anreize, um die türkise Machtfülle in einer Alleinregierung zu stützen.

Und eine Minderheitsregierung ohne Rückhalt kann vom Parlament jederzeit beseitigt werden. Gesehen hat man das Ende Mai. Nach dem Platzen von Türkis-Blau probierte es Sebastian Kurz mit neuen Ministern, aber ohne andere Partei. Das Ergebnis ist bekannt: Binnen einer Woche war diese Regierung Geschichte. Dafür brauchte es bloß eine einfache Mehrheit für einen Misstrauensantrag im Nationalrat, die sich mit SPÖ, FPÖ und Liste Pilz auch schnell zusammenfand. Im Falle einer Minderheitsregierung könnte sich die Geschichte wiederholen: Sobald die ÖVP – aus welchen Gründen auch immer – in den Umfragen schwächelt, könnten drei Oppositionsparteien gemeinsam zur Tat schreiten und die Regierung per Misstrauensvotum abwählen, um bei Neuwahlen Stimmen auf türkise Kosten dazuzugewinnen. Stabil ist diese Regierungsform also beileibe nicht.

Das schlägt sich auch in einer Verkürzung des Zeithorizonts nieder, den eine Minderheitsregierung zu gewärtigen hätte. Ohne durch Vereinbarung gebundenen Partner ist eine Regierung kaum in der Lage, langfristige Reformprojekte plangemäß durchzuziehen. Dabei bedarf es gerade in den großen Fragen der Gegenwart – allen voran der Klimapolitik – einer konsistenten mehrjährigen Strategie, die für die betroffene Bevölkerung auch berechenbar ist. Mit den erratischen Mehrheitsverhältnissen unter einer Minderheitsregierung mangelt es den beschlossenen Maßnahmen an der nötigen Kohärenz. (Theo Anders, 3.10.2019)