Die Vertreter der beiden sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk und der Vertreter der Ukraine, der frühere Präsident Kutschma, unterzeichneten am 1.Oktober in Minsk eine Übereinkunft, die in der ukrainischen Gesellschaft sehr unterschiedlich aufgenommen worden ist. Man einigte sich auf einen Vorschlag des deutschen Präsidenten Frank-Walter Steinmeier zur Umsetzung des 2015 unterzeichneten zweiten Minsker Abkommens. In diesem wurde vereinbart, den beiden abtrünnigen Gebieten im Osten der Ukraine einen besonderen politischen Status im Rahmen ihres Staates zuzusprechen, nachdem dort, entsprechend den ukrainischen Wahlgesetzen und unter Beobachtung durch die OSZE, freie und faire Regionalwahlen durchgeführt worden sind.

Dieser Vorschlag ist allgemein als "Formel Steinmeiers" bekannt geworden. Der Präsident der Ukraine, Selenskyj, hat dieser Vereinbarung unter bestimmten Bedingungen zugestimmt und wird sie in das ukrainische Parlament leiten, um ihre Realisierung in Gang zu setzen. Mit der Übereinkunft verbunden sind weitere Schritte, die ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz im Ö1-Morgenjournal am 2. Oktober als mögliche Fortschritte in Richtung Frieden wertete, wie die weitere Entflechtung der Truppen beider Seiten an der Frontlinie im Osten der Ukraine, die nach dem Amtsantritt des jetzigen ukrainischen Präsidenten bereits begonnen hatte. Außerdem wird erwartet, dass die Vereinbarungen bei einem Treffen im sogenannten Normandie-Format (also dem Treffen von Vertretern der vier Staaten Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland) bekräftigt werden.

Proteste gegen die "Kapitulation"

Die Proteste der Bevölkerung gegen das Vorhaben waren zunächst verhalten. Am Abend des Tages der Unterzeichnung versammelten sich beim Sitz des Präsidenten in Kiew mehrere Dutzend Menschen, die gegen diese Maßnahme – als "Kapitulation" vor Russland – protestierten. Auch auf dem Maidan fand eine nicht sehr zahlreiche Versammlung Protestierender statt. Aktiver noch war der Nationale Korpus, eine aus dem Freiwilligenbataillon "Asow" hervorgegangene politische Gruppierung, die nicht nur an diesen beiden Demonstrationen in Kiew teilnahm, sondern auch in Dnipro (früher Dnepropetrowsk) und Charkiv den regionalen Abteilungen der ukrainischen Staatssicherheit Protestdeklarationen übergab.

In Kiew versammelten sich Protestanten, um gegen die Steinmeier-Forme mobil zu machen.
Foto: REUTERS/Valentyn Ogirenko

Deutlicher protestierten drei politische Parteien gegen die Entscheidung Selenskyjs: die Partei "Golos" des Rocksängers Wakartschuk, die bei den Wahlen zum Parlament knapp sechs Prozent der Stimmen gewann, die Partei des früheren Präsidenten Poroschenko, "Europäische Solidarität" mit acht Prozent, sowie "Vaterland mit Julia Timoschenko, ebenfalls acht Prozent. Was waren die Argumente dieser Parteien für ihren Protest?

Am schroffsten sprachen sich der frühere Präsident und seine Anhänger gegen das unterzeichnete Protokoll aus. Poroschenko bezeichnete in einer Videobotschaft den zugrunde liegenden Vorschlag als eine "Formel Putins", welche darauf gerichtet sein, die Annexion der betreffenden Teile der Ostukraine zu legitimieren und den Weg zu einer Abschaffung der Sanktionen des Westens gegen Russland zu öffnen. Poroschenko erklärte: Wir solidarisieren uns mit jenen "Auftritten und Aufrufen unter den Veteranen" [des Krieges im Osten der Ukraine, Anmerkung des Bloggers]. Wir werden nicht zulassen, dass unser Staat zerstört wird!"¹

Chance auf Frieden?

Er hatte sich früher dafür ausgesprochen, dass jene Regionalwahlen nicht nur entsprechend den ukrainischen Wahlgesetzen, sondern auch erst nachdem die ukrainische Regierung die Kontrolle über die Grenze zwischen den Separatistengebieten und Russland übernommen hat, stattfinden sollen. Die Partei "Golos" verlangte eine geschlossene Sitzung des Parlaments, auf denen der Präsident zu den Vereinbarungen Stellung nehmen solle. Timoschenko forderte eine Zusammenkunft der Fraktionsführer der parlamentarischen Parteien mit demselben Gegenstand. Sie sieht die "Formel Steinmeiers" als inakzeptabel für die Ukraine an. Die Zustimmung der Ukraine dazu versteht sie als eine Gefahr für die nationale Sicherheit, die territoriale Geschlossenheit und Souveränität der Ukraine an.

Bisher hat sich die Partei, welche die Mehrheit im Parlament besitzt (bei 43 Prozent der Stimmen für die Parteiliste hat sie die Mehrheit der Mandate), die Partei "Diener des Volkes", die den Präsidenten grundsätzlich unterstützt, nicht in dieser Frage geäußert. Auch Selenskyj argumentierte auf einer Pressekonferenz defensiv, indem er zu verstehen gab, dass er diese Vereinbarungen eigentlich nicht wollte, aber dazu gezwungen worden ist. Die einzige Partei, die die Vereinbarung deutlich begrüßte, war die "Oppositionsplattform – Für das Leben", die in den Parlamentswahlen im Osten und Süden der Ukraine eine deutliche Unterstützung fand und im Land insgesamt als zweitstärkste Partei 13 Prozent der Stimmen erreichte.

Es ist also nicht klar, ob diese Chance auf einen Frieden im Osten der Ukraine nach fünf Jahren Krieg tatsächlich verwirklicht werden kann. Das wird sich erst im Parlament entscheiden. Die Partei des Präsidenten hat sich bisher auch in anderen Fragen, etwa beim angekündigten Gesetz für die Aufhebung einer unbedingten Immunität für die Abgeordneten, noch nicht zu einer einheitlichen Position durchringen können².

Zerrissenheit

Auch wenn man die Berichte der verschiedenen Online-Zeitungen über die Proteste gegen die Unterzeichnung der Vereinbarung über einen besonderen Status Luhansk und Donezk und die Wahlen miteinander vergleicht, etwa die in "Strana" mit jenen in der "Evropejskaja Prawda"³ (die EP ist eine Spezialausgabe der "Ukrainskja Prawda") wird die Zerrissenheit der ukrainischen Öffentlichkeit deutlich. Während in der "EP" die Bedenken breit dargestellt werden, ist das Argument in "Strana", dass es zwar keinen leichten Weg zum Frieden gibt, aber die Mehrheit der Bevölkerung sich für den Frieden bei den Präsidentschaftswahlen und den Wahlen zum Parlament ausgesprochen hat und insofern keine Alternative zu einem Kompromiss zwischen der Ukraine und Russland existiert.

Die Bevölkerung als Ganzes würde sich zu keinem neuen Maidan gegen Selenskyj mobilisieren lassen, die Mehrheit der Ukrainer trete für einen Frieden im Donbass ein, wie immer er auch zustande kommen kann. Und die Nationalisten repräsentierten nur eine Minderheit der Bürger. Erwarte man etwa, so die polemische Frage des Journalisten von "Strana"², dass Russland kapitulieren wird und die ostukrainischen Gebiete vor den betreffenden Wahlen "freigibt"?! 

Ende in Sicht?

Es geht aber nach dieser Position nicht primär darum, dass in der ukrainischen Politik die reale Kräftekonstellation zwischen der Ukraine und Russland berücksichtigt wird, also Realpolitik die Oberhand gewinnt. In "Strana" wird vor allem unterstrichen, dass diese Schritte, also besonderer Status und Regionalwahlen, sowie vor allem das dadurch beförderte Ende des Krieges, dahin führen könnten, dass dieser bisher immer weiter abdriftende Teil der Ukraine wieder in den gemeinsamen Staat integriert werden kann.

Poroschenko hat es unter dem Druck der Nationalisten nicht verstanden, die Chancen des Minsker Abkommens (vom Februar 2015) zu nutzen und den Krieg dadurch verlängert. Es ist zu hoffen, dass der jetzige Präsident Selenskyj politisch weitsichtiger handelt. (Dieter Segert, 7.10.2019)

Dieter Segert war von 2005 bis 2017 Universitätsprofessor für Transformationsprozesse in Mittel-, Südost- und Osteuropa am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

¹ Aus der Wiedergabe des Auftritts Poroschenkos in einer Videobotschaft. ("Strana")

² Siehe dazu den Bericht in "Strana".

³ "Steinmeier im Gesetz – Auf was sich Kiew eingelassen hat und gibt es in der 'Formel' einen Abzug der russischen Truppen?" (eurointegration.com) 

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