Solidarität! Etwa mit Carola Rackete und der Sea-Watch-3-Crew in Berlin im Frühsommer 2019.

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Verortung und Heimat? Schwindet. Wertschätzung? Fehlanzeige. Die Verpflichtung der Gesellschaft als Ganzes für Schwächere und Benachteiligte? Wird skeptischer denn je beäugt.

Manche Bücher kommen punktgenau. Zur rechten Zeit. Etwa die von Heinz Bude. Ob Stimmungen oder Bildungspanik, verbaute Zukunft oder sozialer Ausschluss, mit Verve misst der Kasseler Ordinarius für Soziologie der Gegenwart den Puls. Nun, wie aufs Stichwort schleichender sozialer Diffusion und Diskursblasen-Atomisierung: Solidarität.

Im Jahr 1896 veröffentlichte Léon Bourgeois, ein französischer Linksrepublikaner, sein Buch Solidarité. Dieser Begriff, schrieb er damals, "ist zur gleichen Zeit der objektive Seinsgrund der Brüderlichkeit. Mit ihr muss man anfangen. Solidarität zuerst, dann Gleichheit oder Gerechtigkeit, die in Wahrheit identisch sind, schließlich Freiheit." Es wurde so zum Daseinsbegriff. 125 Jahre später nimmt Bude dies auf, anders akzentuiert: "Niemand muss solidarisch sein, man muss nur eine Ahnung davon haben, was man verliert, wenn man vergisst, was wir uns schulden."

Solidarität – antiquiert und "ausgeleiert"? Keineswegs. Das zeigt er locker-leichten Schritts auf. Das eigene Ich in Kollision mit Solidarität? Durchaus. Aber daraus ergibt sich Reibung und Funkenflug. Solidarität, schreibt Bude, "berührt mein Verständnis von Zugehörigkeit und Verbundenheit, meine Bereitschaft, mich den Nöten und dem Leiden meiner Mitmenschen zu stellen, und mein Gefühl der Verantwortung und Bekümmerung für das Ganze."

Der Soziologe pflegt die Kunst der essayistischen Intervention. Auch Solidarität ist pointiert geschrieben. Doch es bedürfte nicht des Hinweises am Schluss, dass der Text auf einer Vorlesung beruht, um zu attestieren: Mehr Tiefengehalt schadet selten. Am Ende häufen sich viele anregende offene Fragen. Dafür entschädigt Budes Formulierungskunst: "Überall, wo Gesellschaft ist, gibt es auch Solidarität." Immerhin.

Optimistisch oder pragmatisch

Von der "Geschichte der Gefühle" zur Kälte des Kapitalismus? Die Historikerin Ute Frevert steht seit 2008 dem gleichnamigen Forschungsbereich am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin vor. Gibt es einen moralischen Kapitalismus? Das ist ihre Leitfrage. Sie geht tief in die Historie zurück, setzt sich mit Adam Smith und Karl Marx auseinander, beschäftigt sich mit Armut, dem Sozialstaat, der Ausdifferenzierung der Märkte, mit Geld, Kreditwesen, Börsen und Spekulationen und mit Konsumentenmacht.

Das ist informativ. Andererseits zu sehr auf Harmonie bedacht. Risse und Machtmissbrauch, Unterwerfung und Zerstörung kommen kaum vor. Ihr Ausblick, dass Kritik am Kapitalismus denselben stetig verbessere, ist mindestens anzweifelbar.

Der an der University of Oxford lehrende Wirtschaftswissenschafter Paul Collier, in früheren Büchern Interpret des ökonomischen Nexus von Armut, Migration und Krieg, beugt sich über die westliche Hemisphäre. Und ist in seinem Krisenbefund aufregend unaufgeregt: "Der Kapitalismus löste sein wichtigstes Versprechen – einen ständig steigenden Lebensstandard für alle – immer weniger ein: Einige profitierten weiterhin, aber andere wurden abgehängt."

"Rottweilergesellschaft"

In seinem Manifest fordert er keine Abschaffung der kapitalistischen Wirtschaft. Er will Austarierung, Steuerung. Die Zeit zwischen 1945 und 1970 nennt er "sozialdemokratisch", ohne das parteipolitisch zu meinen. Zu Wohlstand und Aufstieg gesellten sich damals Zugehörigkeit und Wertschätzung. Marktwirtschaft war moralisch. Noch. Heute ist sie das längst nicht mehr.

Das schöne Wort "Rottweilergesellschaft" findet Collier dafür. Verortung und Heimat? Schwindet. Wertschätzung? Fehlanzeige. Die Verpflichtung der Gesellschaft als Ganzes für Schwächere und Benachteiligte? Wird skeptischer denn je beäugt. Collier lässt kein Lager aus und tritt auch Kosmopoliten auf die Füße.

Seine Lösungen, nicht rechts, nicht links, wie er betont, leuchten ein: Schaffung solider Arbeitsplätze, Transferausgleich zwischen Metropolen und Provinz, Förderung dynamischer zukunftsstarker Unternehmen und die Abstrafung ausschließlich auf Profitmaximierung ausgerichteter Firmen. Zukunft? Kann nur sozial sein.

Ist es eigentlich sinnlos, heute noch zu fragen: Was ist der Mensch? Um das zu beantworten, muss man eine vergleichende Anthropologie des Menschseins ins Auge fassen. Volker Gerhardt wagt es. Der Bogen, den er schlägt, ist eindrucksvoll: von der Antike zu Kant, Schiller, Hegel und Nietzsche.

Er bettet seine Summa humana multiperspektivisch ein. Und fächert sie klug auf: in Fragen und Suchen, Denken und Wissen, Handeln und Herstellen, Unterscheiden und Abgrenzen, das Bezogensein auf den anderen und Gewalt gegen andere. "Spiel und Spielen" behandelt er in einem eigenen Kapitel, ebenso "Kreativität und Erfinden".

Ist Humanität das, was der Mensch permanent anzustreben hat, als finales Ziel, als vielleicht utopisches, weil unerreichbares Ziel? Volker Gerhardt: "Der begriffliche Kern dieses Humanismus ist, dass sich in ihm der Mensch als der begreift, der er in seiner besten Verfassung sein kann." Zu Recht lenkt er das Augenmerk darauf, dass Humanität im 21. Jahrhundert auch Pragmatisches umfassen kann, Machbares und Nützliches, begrenzt, aber konkret entwickelbar als Alternative zu verkalktem Traditionsinstrumentarium.

Humanität heißt, ebenfalls fähig zu sein, ein Problem so lange auszuhalten, bis eine Lösung kreiert ist. So dezidiert leicht Gerhardt, der bis 2014 Ordinarius für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin war, zu schreiben versucht, man benötigt für seine Darstellung Konzentration und mehr als gute Vorkenntnisse. Dies Buch ist vieles, nur keine Nebenbeilektüre.

Vernutzte Begriffe

Tugenden, was war das gleich noch einmal? Irgendetwas aus der Antike, oder? "Arete", griechisch Tugend, ist mit "agathon", das Gute, verschwistert. "Arete" hielt einst die Gesellschaft zusammen.

Und heute? Nun gibt es in der Gegenwart Begriffe tugendhafter Integrität, die derart vernutzt sind, dass "Achtsamkeit" oder "Empathie" oder "das gute Leben" bei vielen schon das Gegenteil von Achtsamkeit und Empathie auslösen.

Progressiv protechnologisch

Wenn Corinne Pelluchon, für Bioethik und politische Philosophie habilitierte Professorin an der Université Paris-Est Marne-la-Vallée, sich über den Komplex der Tugenden beugt, dann in Form eines Rundgangs durch die Philosophiegeschichte, vom Hochmittelalter über Immanuel Kant bis zu Hannah Arendt und dem Soziologen Richard Sennett.

Ihr geht es, durchaus in der Traditionslinie der französischen Moralisten des 18. Jahrhunderts – allerdings ohne deren ausgeprägtes Favorisieren des Aphorismus und des Bonmots -, um die Praktiken der Wertschätzung. Und wie diese wurden, was sie heute sind. Pelluchon: "Bevor man von Verboten und Imperativen, von Pflichten und Verpflichtungen, von Gut und Böse spricht, muss man danach fragen, auf welche Weise wir moralische Akteure sein können."

Und was deren fast inhärenter Makel durch die Zeiten war: die schroffe Kontrastfrontziehung, Kultur – Natur, Mann – Frau, Mensch – Tier. "Die Tugenden selbst können Laster werden, der Mut kann sich in Verwegenheit verwandeln und die Großmut in Anmaßung, wenn diese moralischen Dispositionen nicht aus der Wertschätzung kommen und ihnen nicht Demut vorangeht."

Sie kritisiert den Dualismus, erläutert Ganzheit frei von jeglichem esoterischen Anhauch. Das ist anregend. Wenn sie auf Wachstumsideologien eingeht und Neoliberalismus, mutet ihre Analyse jedoch anmutig schwach an. Der Philosophin mangelt es im Lauf der Darstellung zusehends an fassbarer Konkretheit. Ihre Lösungsvorschläge sind erst vage, bald noch vager und enden schließlich ganz im Wattigen. Ihr fehlt ein überzeugender und tragfähiger ökonomischer Unterbau.

Zustand der Sozialdemokratie

Der 60-jährige englische Wirtschaftsjournalist und Publizist Paul Mason, technikaffin bis in die Haarspitzen, attestiert der Gegenwart eine "Krise des progressiven Denkens". Dem zu widersprechen fällt schwer, schaut man sich den Zustand der Sozialdemokratie in Europa an.

Dem Autoritarismus von rechts und noch weiter rechts setzt er seine "Philippika" entgegen, eine Streitschrift für einen auf künstlicher Intelligenz und Algorithmen aufbauenden neuen Humanismus, aufgeklärt und menschlich.

Die internationale Politlage und die Demontage zivilgesellschaftlicher Normen und demokratischer Kontrollinstanzen interpretiert er als logische Hervorbringung eines vollautomatisierten Kapitalismus.

Die Macht der Maschinen hat die Menschheit im Griff. Gründlich seziert Mason die letzten knapp vierzig Jahre erst angloamerikanischen, dann globalen Neoliberalismus: Sedierung und Ausschaltung des Gemeinwohls, Vergötzung sozialdarwinistischer "Märkte", algorithmisch organisierte Angriffe, deren Ergebnisse Propaganda und Aushöhlung von Fakten sind.

Es ist eine Ideen-und-Wirtschafts-Tour-de-Force, mit nicht wenigen Wiederholungen und mehr als einer Handvoll Sackgassen. Und dann gibt es Sätze, die man sich deutlich markiert: "Die Identität jedes vernetzten Menschen hat sich in ein gesellschaftliches Schlachtfeld verwandelt. Das wiederum erklärt, warum sich autoritäre Regierungen und rechtsextreme Bewegungen auf dem Informationskrieg in den Köpfen der vernetzten Individuen konzentrieren."

So düster der erste Teil ist, so überoptimistisch der zweite. Hier skizziert Mason, wie die Zukunft aussehen könnte, würden Biotechnologie, Robotik und Automatisierung klug eingebunden werden in einen neohumanistischen Gesellschaftsentwurf, in dem alle Gegensätze in einen harmonischen Interessenausgleich münden. Kurz: in alt-neuer Solidarität. (Alexander Kluy, 5.10.2019)

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Heinz Bude: "Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee." 19,60 Euro / 176 Seiten. Hanser-Verlag, München 2019

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Ute Frevert: "Kapitalismus, Märkte und Moral." 20 Euro / 152 Seiten. Residenz- Verlag, Salzburg 2019

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Paul Collier: "Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Zerfall der Gesellschaft." 20,60 Euro / 320 Seiten. Siedler-Verlag, München 2019

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Volker Gerhardt: "Humanität. Über den Geist der Menschheit." 32,90 Euro / 320 Seiten. C. H. Beck, München 2019

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Paul Mason: "Klare, lichte Zukunft. Eine radikale Verteidigung des Humanismus." 28,80 Euro / 416 Seiten. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2019

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Corine Pelluchon: "Ethik der Wertschätzung. Tugenden für eine ungewisse Welt." 51,40 Euro / 304 Seiten. Wgb Academic, Darmstadt 2019