"Ich glaube anders": Peter Landesmann hat in seiner Lebensführung die Spannung zwischen Assimilierung und Rückbesinnung auf Tradition erfolgreich bewältigt.

Foto: Regine Hendrich

Es war im Jahr 2001, da läuteten auf dem Schreibtisch von Peter Landesmann zwei Telefone gleichzeitig. Es war an und für sich schon passend, dass er zwei Telefone hat, denn er hatte ja auch zwei Leben gelebt bisher. Mindestens. In diesem Fall aber war es so, dass beide Telefone in ein und derselben Angelegenheit seines zweiten Lebens läuteten, wenn man so zählen will.

An dem einen Apparat, den Peter Landesmann zuerst abhob, meldete sich der Dekan der Fakultät für Katholische Theologie an der Universität Wien. Bevor das Gespräch noch richtig auf das Thema kommen konnte – Landesmann hatte gleich eine Ahnung, worum es ging -, wollte er auch noch den anderen Anruf annehmen.

Dort vernahm er eine bekannte Stimme. Es war die von Franz König, dem Kardinal im Ruhestand und langjährigen Erzbischof von Wien. Der allseits beliebte Diener Gottes hatte seine Verbindungen in einer speziellen Angelegenheit spielen lassen. Denn Peter Landesmann wollte Theologie studieren. Katholische Theologie. Die evangelische hatte er schon mit einer Promotion abgeschlossen, Judaistik sowieso.

Allererster Dialog

Prinzipiell sollte das kein Problem sein, aber bei den theologischen Fakultäten gibt es ein paar Besonderheiten: sie gehören zwar zur Universität, aber auch zur Kirche. Deswegen musste erst einmal geklärt werden: Kann ein Jude die katholische Glaubenswissenschaft bis zu einem Doktorat studieren?

Die Sache ging bis nach Rom, und wurde schließlich gütlich und durchaus auch in dem Geist, für den Kardinal König stand, geklärt. Er kann. Und so kam Peter Landesmann schließlich zu einem dritten Doktorat in einem fortgeschrittenen Stadium seines Lebens. Er promovierte mit einer kirchenhistorischen Arbeit über Darstellungen der Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Also über einen in gewisser Weise christlich-jüdischen Dialog, nämlich den allerersten.

An diesem Wochenende wird Peter Landesmann 90 Jahre alt. Passenderweise wird er es zweimal, nämlich am 4. und am 6. Oktober. Der 4. steht in der Geburtsurkunde, weil da am Abend aber der Sabbat beginnt, wird am Sonntag gefeiert. In jedem Fall ist das Grund genug, sich mit einem eminenten Österreicher der Zweiten Republik zu treffen.

Er wählt ein Traditionsgasthaus in der Wollzeile, und so sitzen wir an einem Tag Ende September zur Mittagsstunde bei Tafelspitz und Kalbsgulasch und reden darüber, was alles in ein Leben passt oder passen musste, wenn man am 4. Oktober 1929 in Wien in eine jüdische Familie geboren wurde.

Der stärkste Einschnitt

"Die Besetzung Österreichs im Jahr 1938 war der stärkste Einschnitt." Zwar wurde Landesmann damals nur ganz am Rande persönlich mit dem Antisemitismus konfrontiert, der nach dem "Anschluss" gleich rabiat wurde. Er hatte bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht so richtig gewusst, dass seine Familie eigentlich ungarisch war – nun erwies sich diese Staatsangehörigkeit als hilfreich.

Man ging zurück an den Stammsitz der Familie. Das Jahr 1944 schildert Landesmann als eine lange Reihe von Improvisationen seines Vaters, der alles tat, um die Familie heil durch die Wirren der Zeit zu bringen. Zu allem Überdruss verlor die Familie damals auch noch die Mutter, die an Krebs erkrankt war.

Als es für die Juden schließlich mit der deutschen Besetzung in Ungarn gefährlich wurde, mussten Peter und sein zweieinhalb Jahre jüngerer Bruder Hans selbst auf sich aufpassen: "Wir wurden in einem Salesianerkloster untergebracht.

Mein Bruder und ich waren beide blond und haben sehr arisch ausgeschaut. Man hat mich auch zum Ministrieren eingeteilt. Nach einer Messe kam ein Bursche zu mir und sagte: Halt die Augen offen, es heißt, hier sind Juden versteckt.

Daraufhin habe ich zu meinem Bruder gesagt: Wenn dieses Gerücht umgeht, sind wir hier nicht mehr sicher. Wir sind in die Berge gegangen. Die jüdischen Kinder, die bei den Salesianern waren, wurden alle in die Donau geschossen. Dort gibt es heute ein Mahnmal: Kinderschuhe in Bronze."

Die Brüder entkamen später noch einmal einer lebensbedrohlichen Situation, und dann kam endlich die Rote Armee. Nun erwiesen sich die Verbindungen nach Wien als hilfreich. 1947 kam Peter Landesmann in seine Geburtsstadt zurück und schrieb sich erst einmal an der Boku als außerordentlicher Hörer ein. Die Studienwahl lag aus familiären Gründen nahe, denn ein großer landwirtschaftlicher Betrieb musste geführt werden.

Schlüsselszene in Berlin

Aus einem letzten Jahr im Jüdischen Gymnasium in Budapest blieb Landesmann aber eine Begebenheit in Erinnerung: "Es hatte damals zwei Klassen gegeben. Eine wurde von einem Rabbiner geleitet, die andere von einem Zionisten, der Neuhebräisch unterrichtete. Nach dem Krieg gab es nur noch eine Klasse – ungefähr die Hälfte hatte überlebt. Als ich einmal zum Vorlesen eines Texts aus der Tora aufgerufen wurde, konnte ich das nicht, weil ich mit dem Hebräischen nicht vertraut war. Der Lehrer unterstellte mir, dass ich aus Protest nicht las. Denn die Landesmanns galten als sehr assimiliert. Aber ich wollte gar nichts demonstrieren. Mich hat Israel und das Schicksal immer interessiert."

Aus diesem Interesse erwuchs das zweite, öffentlichere Leben von Peter Landesmann. Es begann beiläufig, mit Vorträgen, zu denen er eingeladen wurde, weil sich damals immer wieder herausstellte, dass die Leute in Wien so wenig über das Judentum wussten. Er wurde gefragt, oft von christlichen Pfarrern.

Lange Zeit behalf er sich dabei mit dem Wissen, das er aus dem Gymnasium mitgebracht hatte. Er erzählt schließlich von einer Schlüsselszene, die er Mitte der 80er-Jahre erlebte: In Berlin, wohin er zu einem Gespräch eingeladen worden war, traf er "auf eine Dame, die sehr konservativ religiös war, und der konnte ich nicht die Stirn bieten, weil sie viel besser als ich aus der Bibel zitieren konnte. Das hat mich geärgert."

Aus diesem Ärger erwuchs ein Bedürfnis, sich vertieft mit den Fragen der Buchreligionen zu befassen. Peter Landesmann, der Autor populärer Werke über das Judentum, wurde zu einem ewigen Studenten im besten Sinn.

Irdische Umstände

Hochrangige Persönlichkeiten nahmen an seinen Lernerfolgen Anteil, darunter eben auch immer wieder Kardinal König, der ihn nach dem Abschluss des Judaistikstudiums fragte: "Nun, glauben Sie jetzt mehr oder weniger?" Landesmann fand eine elegante Antwort: "Ich glaube anders."

Der Tafelspitz und das Gulasch sind verzehrt, zum Ausklang gibt es noch eine rote Cuvée und ein wenig Gelegenheit zum Fachsimpeln. Eines seiner Bücher beschäftigt sich mit den historischen Ursprüngen des Volkes Israel. Da wäre es jetzt doch interessant, was es seiner Meinung nach mit der Exodus-Erzählung auf sich hat: Ist Israel wirklich 40 Jahre aus Ägypten durch die Wüste ins Gelobte Land gezogen?

"Was in der Bibel steht, hat einen geschichtlichen Hintergrund, aber es sind alle möglichen Vorstellungen eingeflossen. Sicher sind immer wieder Arme vom Nil nach Palästina gekommen, aber die Sesshaftwerdung hatte viel mehr damit zu tun, dass ein Zement erfunden wurde, mit dem man Zisternen bauen und Wasser sammeln konnte." Religion beruht eben häufig auf sozialen und irdischen Umständen – ein Umstand, den Landesmann niemals unterschlagen würde.

Exemplarisch aufgelöst

Es gäbe noch eine Menge zu besprechen, zum Beispiel sein Verhältnis zu Bruno Kreisky, dem er in einem Zeitungsartikel vorhielt, dass auch Juden zu Antisemiten werden können ("Das mit dem Wiesenthal war unmöglich"), oder die Affäre Waldheim ("Die war für mich besonders kompliziert, weil ich die Familie gut kannte"; einen Satz wie "Ich habe nur meine Pflicht getan" findet Landesmann allerdings unentschuldbar). Aber wenn man all das en détail durchgehen würde, wäre man schnell bei einem neuen Buch.

Die Spannung zwischen Assimilierung und Rückbesinnung auf Tradition und Identität hat Peter Landesmann, wohl auch dank letztlich glücklicher Lebensumstände, geradezu exemplarisch in beide Richtungen hin aufgelöst.

Wien ist für ihn die Stadt, in der er zwar die Ereignisse von 1938 nie vergessen wird, in der er später aber auch zu einem bedeutenden Vertreter eines modernen Bürgertums werden konnte, wie er mit seinem Gentleman-Habitus deutlich kundtut. "Ich wüsste nicht, wo ich lieber leben würde. Ich gehöre eindeutig hierher." (Bert Rebhandl, 5.10.2019)