Ein Gebäude, an dem sich die Geister scheiden: Helmut Richters Schulbau-Experiment am Kinkplatz
Foto: Manfred Seidl


Der Wiener mag's gerne gemütlich. Wohlproportionierte Innenräume in dicken Wänden, die bittschön von außen verputzt und ein bissl nett dekoriert sind. Keine scharfen Kanten, nicht zu viel Glas, und die Technik soll um Himmels willen hinter der schönen Kulisse verbleiben. Zu viel Transparenz lenkt nur ab, zu viel Dynamik ist ungut fürs Temperament. Die Erforschung dieser Gemütlichkeit hat zweifellos zu hervorragender Architektur geführt, man denke an Adolf Loos, Josef Frank oder Hermann Czech. Sie macht aber auch blind.

Als der damalige Stadtrat Hannes Swoboda Anfang der 1990er das Schulbauprogramm 2000 ins Leben rief und eine Handvoll Direktaufträge an Architekten vergab, öffnete sich ein Fenster in eine andere Welt: experimentell, neugierig, offen. Helmut Richters Schule am Kinkplatz war einer dieser Schulbauten, und mit Sicherheit der radikalste. Stahl, Glas, viel Licht, viel Luft. Eines der wenigen gebauten Beispiele der Hightech-Architektur, die in Großbritannien und Deutschland die Postmoderne auf breiter Front ablöste, in Österreich aber nie Fuß fasste. Zu ungemütlich, verstehen S'.

Mit so viel Transparenz umzugehen, das muss man natürlich lernen. Das ist nicht immer leicht. Keine Frage, es gab Probleme mit Überhitzung und Akustik. Doch diese resultierten vor allem aus kurzfristigen Umplanungen (die geplanten Photovoltaik-Paneele wurden kurzerhand gestrichen) und aus dem Stand der Technik von 1994. Nichts, was man heute nicht in den Griff bekäme, wenn man etwas Mut zur Eigeninitiative aufbringt und nicht typisch wienerisch jammert und auf Befehle von oben wartet.

"Die Schule war sein Meisterwerk", so die Witwe Helmut Richters, die Architektin Silja Tillner, die sich wie viele Architekten für Erhalt und Sanierung einsetzt. "Sie ist sein einziges öffentliches Gebäude, sie bringt sein räumliches und konstruktives Wissen auf den Punkt und wurde sehr behutsam in die Topografie des Hangs integriert." Sie ist in Österreich einzigartig.

Es ist der Stadt Wien anzurechnen, dass sie sich mit Expertenworkshops um eine Lösung bemüht. Weniger hilfreich ist es, dass die drei Gutachten, die Sanierungssummen von rund 27 bis 55 Millionen Euro veranschlagen, nicht publikgemacht werden. Mit Gutachten kann leicht Politik gemacht werden, wenn nur die Summen unter dem Strich veröffentlicht werden. Das führt uns aber nicht weiter. Mehr Transparenz, bitte!

Auch an Ideen für die Nutzung des seit zwei Jahren leerstehenden Baus sollte es nicht mangeln. Warum nicht die damals energetisch visionären Hightech-Konzepte ins Heute überführen? Warum nicht ein Klimalabor, eine Ökologie-Akademie, eine Schule der Zukunft? Warum nicht den Spirit des Experiments wiederaufnehmen und weiterdenken? Mehr Mut, mehr Kanten, Bühne frei für die Technologie! Träge Gemütlichkeit gibt es eh genug in Wien.

"Der Petersdom war auch ein Aufwand", sagte Architekt Helmut Richter in einem Interview im Jahr 1994, kurz nach Inbetriebnahme seines legendären Schulhauses. "Wien ist ein architektonisch zurückentwickeltes Loch zwischen Osten und Westen. Man sieht ein Gebäude aus Glas oder Stahl so an, als würde man plötzlich einen Außerirdischen vor sich haben. Ich hingegen wollte zeigen, wie man heutzutage bauen kann und bauen muss."

Wunderbare Argumentation. Und dennoch: Der Vergleich mit Bramante, Bernini und Borromini hinkt gewaltig, denn im Gegensatz zum Petersdom, dem es 400 Jahre nach Fertigstellung immer noch ziemlich prächtig geht, ist die gläserne Hightech-Schule am Kinkplatz nach 25 Jahren ein raumklimatischer und bildungspolitischer Totalschaden.

Spannend ist, dass die Probleme nicht erst im Laufe der Zeit als Ermüdungs- oder Verschleißerscheinungen aufgetreten sind, sondern die Schülerinnen und Lehrer de facto vom ersten Tag an gequält haben. "Wir sind mit der Farb- und Materialgestaltung der Schule unzufrieden, denn sie wirkt kalt, abweisend und aggressiv", meinte der damalige Schuldirektor im Rahmen einer Besichtigung. "Ganz zu schweigen von der enormen Überhitzung im Turnsaal, den man im Mai, Juni und September kaum benützen kann. Leider ist unsere Mitsprache irrelevant gewesen. Es war quasi unmöglich, mit dem Architekten zu kooperieren. Er hat bloß vehement auf die Verwirklichung eines Konzepts gedrängt."

Auf die Vorwürfe angesprochen, meinte Richter damals: "Lehrer glauben, alles besser zu wissen. So mancher neigt dabei zur Tyrannei. Es wird Zeit, dass sie ruhig einmal eins auf den Deckel kriegen." Frage in die Runde: Wollen wir dieses auf nicht gerade humanistischem Fundament errichtete Bauwerk allen Ernstes als Vorzeigeschule und raumpädagogisches Meisterwerk der 1990er zelebrieren?

Gewiss, Richter hat mit diesem Projekt ein technisch innovatives Experiment gewagt, und diese Vision ist ihm unbezahlbar hoch anzurechnen. Doch es liegt in der Natur von Experimenten, dass sie auch schiefgehen können. Und dieses ist in die Hose gegangen. Nicht genügend.

Schimmel, Überhitzung, schlechte Akustik, undichtes Dach, gesprungene Glasscheiben. Dazu laufende Reparaturen im Millionenausmaß. Im Sommer 2017 wurde der Betrieb eingestellt. Seit damals steht die Schule leer. Und nun? Was tun? Es muss ja nicht gleich der ominöse Abbruch sein, von dem Bezirks- und Boulevardmedien gehört haben wollen.

Doch fest steht: Will man der technischen Ruine am Kinkplatz eine sinnvolle Weiternutzung gönnen, kommt nur ein g'scheiter Umbau infrage, bei dem nicht jedes kaputte Extra und jedes niemals funktionierende Detail mit Samthandschuhen angegriffen wird. Es ist legitim, den visionären Gedanken Richters zu würdigen. Aber bitte keine Krokodilstränen! (Maik Novotny & Wojciech Czaja, 05.10.2019)