Statt Personaldebatten zu führen müsste die SPÖ über große Themen reden.

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Als Pamela Rendi-Wagner geboren wurde, am 7. Mai 1971, regierte Bruno Kreisky als Kanzler einer (von der FPÖ geduldeten) Minderheitsregierung. Ein paar Monate später erreichte er bei Neuwahlen eine absolute Mehrheit. Die erste von insgesamt drei.

Heute steht die SPÖ bei 21,18 Prozent. Die soziologisch-politischen Voraussetzungen haben sich in den Jahrzehnten seither dramatisch verändert. Die SPÖ scheint immer noch in dem Glauben zu verharren, dass die Welt der 1970er-Jahre fortbesteht, in der eine machtvolle, wohlorganisierte Sozialdemokratie regiert, der die Zukunft gehört.

"Wir sind die strukturkonservativste von allen Parteien", sagte der Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser am Wahlabend. Die gegenwärtige SPÖ weiß nicht, was die neuen großen Themen sind. Oder will es nicht wissen. DER STANDARD hilft mit ein paar unangenehmen Erkenntnissen aus.

Die "Hackler" haben sich längst verabschiedet

Bei Rendi-Wagners Geburt war die gesamte Großindustrie verstaatlicht und praktisch in roter (Gewerkschafts-)Hand. Als Rendi-Wagner im November 2018 zur Vorsitzenden der einstigen Ar beiterpartei gewählt wurde, war die FPÖ längst die größte Arbeiterpartei. Bei den Wahlen am 29. September 2019 gewann die FPÖ 48 Prozent der Arbeiter, die SPÖ 23 Prozent (eine Verbesserung – 2017 waren es 58 und 19 Prozent gewesen).

Die Mur-Mürz-Furche ist seit letztem Sonntag türkis. Das Überlaufen der Arbeiter von der SPÖ zur FPÖ hat bereits in den frühen 90er-Jahren begonnen. Ursachen: dass die "Verstaatlichte" saniert werden musste (=Personalabbau), dass "die Partei" nicht mehr sichere Jobs im öffentlichen Bereich und günstige Wohnungen zur Verfügung stellen konnte – und dass gerade erst 90.000 bosnische Flüchtlinge gekommen waren.

Grün ist das neue Rot

Als Rendi-Wagner im riesigen Per-Albin-Hansson-Gemeindebau in Wien-Favoriten (14.000 Einwohner) aufwuchs, waren "Beton" und "Autos" positiv besetzte Begriffe. Die Bauarbeitergewerkschaft wollte 1984 die Besetzer aus der Hainburger Au prügeln.

Heute ist die jüngere, urbane, liberale Bildungsschicht, die ihren Aufstieg zu einem Großteil den Reformen der SPÖ verdankt, massenhaft zu den Grünen übergelaufen: 2019 193.000 Personen. Ein Drittel der Grün-Wähler besteht nun aus ehemaligen SP-Wählern. Das muss Rendi-Wagner, die genau dieser Schicht entstammt, besonders treffen.

Dankbarkeit ist keine politische Kategorie

Dank der Kreisky’schen Reformen war für Rendi-Wagner und ihre alleinerziehende Mutter ein Leben ohne "Haushaltsvorstand" und "Ernährer" mit sozialpolitischen Transferzahlungen möglich. Auch dass die junge Pamela ein Medizinstudium machen konnte, das sie 1996 abschloss, ist ihnen zu verdanken.

Die soziale Sicherheit in Österreich ist nach wie vor sehr hoch, aber das wird anscheinend als selbstverständlich angesehen. Bei der jetzigen Wahl liefen acht Prozent der Kernwählerschicht – die über 60-Jährigen – der SPÖ davon (großteils zu Kurz).

Die ignorierte "Ausländer"-Frage

In der Per-Albin-Hansson-Siedlung von Rendi-Wagners Jugend war kein einziges Kopftuch zu sehen. Inzwischen geben diverse Reportagen die bekannten Klagen über die "Ausländer" wieder.

Wien hat rund 40 Prozent Einwohner mit "Migrationshintergrund" (nach Definition der zuständigen Wiener Magistratsabteilung 23 entweder ausländische Staatsbürgerschaft oder im Ausland geboren). Der Anteil der Muslime in ganz Österreich beträgt rund acht Prozent (700.000 Personen), in Wien 14 Prozent. Die Irritation darüber ist zwar seit 2015 abgeflaut, aber latent geblieben.

Tatsächliche oder gefühlte Verschlechterungen

Die Mieten werden höher, die Preise für Eigentumswohnungen unerschwinglich; die Wartezimmer der Ärzte und die Notaufnahmen der Spitäler gehen über, die Pflege der immer älter werdenden Population ist letztlich ungelöst. Jeder, der irgendwie kann, vermeidet es, seine Kinder in sogenannte "Brennpunktschulen" mit hohem Migrantenanteil zu geben.

Die Rechten (Türkis inklusive) reagieren auf diese Missstände mit Schikanen für Migranten und dem, was der Sora-Experte Christoph Hofinger im STANDARD-Chat die "Strenger Vater"-Politik genannt hat. Aber auch im Kampf gegen diese autoritären Tendenzen unter Blau-Türkis war die SPÖ nicht an vorderster Front: Die BVT-Affäre und die Verbindungen von Kickl zu Rechtsextremen wurden von Neos, Grünen und Peter Pilz thematisiert.

Die strukturkonservative Antwort der SPÖ ist die Personaldebatte. Rendi-Wagner ablösen oder belassen? Die "Lösung" der SPÖ: Rendi-Wagner unter Kuratel stellen. Ihr den Apparatschik Christian Deutsch als Bundesgeschäftsführer aufs Aug’ drücken. Sie darf nicht einmal mehr allein zum Bundespräsidenten gehen, muss Doris Bures mitnehmen.

Fast kein personalpolitischer Spielraum

In den acht Faymann-Jahren wurden keine interessanten neuen Leute in der Partei gefördert oder zugelassen. Rendi-Wagner hat schon fast jeden personalpolitischen Spielraum verloren (auch bei der Besetzung des geschrumpften Parlamentsklubs).

In dieser Situation kann die SPÖ nur noch versuchen herauszufinden, was "für die Menschen" die großen Themen sein könnten. Indem sie nach einem großen Vorbild diskutiert und diskutieren lässt.

Kreisky hat als Oppositionsführer mit einer ganz breiten, offenen Diskussion ("1400 Fachleute") den Boden dafür vorbereitet, dass die Sozialdemokratie als wählbare Alternative für neue Schichten erstmals seit 1919 aus der Minderheitsposition ausbrechen konnte.

Ein Katalog des Zusammenlebens

Vielleicht ist es möglich, ein Jahr vor der Wien-Wahl einen großen Diskussionsprozess zwischen den Vertretern der Muslime, der "autochthonen" Österreicher und der vernünftigen Politik anzusetzen, bei dem alles auf den Tisch kommt und am Ende ein Katalog des Zusammenlebens steht.

Vielleicht ist es möglich, in ähnlichen Veranstaltungen die vertuschten Probleme des Gesundheitswesens und der Schulen offen und durchaus unbequem zu diskutieren.

Vielleicht ist es möglich, irgendwie doch mit den entfremdeten Arbeitern ins Gespräch zu kommen. Und so weiter.

Denn heute wird nicht mehr offen geredet – vor allem nicht darüber, dass es um das Überleben der Sozialdemokratie als relevante Kraft geht. (Hans Rauscher, 5.10.2019)