Der deutsche Journalist und Österreich-Beobachter Markus Schubert vergleicht in seinem Gastkommentar die politische Stimmungslage heute mit jener in den Jahren 2002 und 2003.

Am Nikolaustag 2002, dem Tag, an dem in Wien die ersten schwarz-grünen Sondierungen begannen, kommentierte ich im STANDARD: "Wolfgang Schüssel hat die strahlendsten Rechtspopulisten des Kontinents im Licht des politischen Alltags aschgrau werden lassen. Sie sind nicht einmal mehr mit sich selbst koalitionsfähig. Er kann also ein weiteres Mal ein Kapitel im Lehrbuch für erfolgreiche Christdemokraten schreiben: diesmal mit einem bürgerlich-alternativen compromesso storico."

Bleierne Jahre

Die Veranstaltung fiel bekanntlich aus. Stattdessen begann eine bleierne Zeit: BZÖ, Gusenbauer, Obmannwechsel, Stronach, Faymann, die wieder erstarkende FPÖ. Dann wiederholte Sebastian Kurz die Zauberlehre nach Dr. Schüssel: als Junior die große Koalition sprengen, das Wagnis Schwarz-Blau wagen, die FPÖ sich zerlegen lassen, die Mehrheit ausbauen und Machtoptionen gewinnen. Was aber spricht dagegen, dass Kurz den Fehler der Granden von einst als Zauberlehrling wiederholt?

In Koalitionen machen sich Parteien regelmäßig gegenseitig die Erfolge streitig.
Cartoon: Michael Murschetz

Lassen wir beiseite, dass die FPÖ sich selbst aus dem Spiel nimmt. Das könnte sich binnen weniger Wochen wieder ändern. Wichtiger ist: Es gibt neue Erfahrungen, eigene und fremde. Was die kommode Lösung 2003 für die ÖVP bedeutete, ist schon skizziert worden. Man kann aber auch aus den Fehlern der anderen lernen.

Lektionen aus Deutschland

· Die baden-württembergische CDU schreckte 2006 unter Günther Oettinger vor der fordernden Koalitionsvariante mit den Grünen zurück und wählte den Klassiker Schwarz-Gelb. Heute muss sie froh sein, als Juniorpartner in der grün-schwarzen Landesregierung gefragt zu sein.

· Die Hamburger CDU steuerte 2008 zwar tapfer in die erste schwarz-grüne Koalition auf Landesebene, zerrüttete das Bündnis aber nach dem Abgang von Bürgermeister Ole von Beust aktiv und hat für die Bürgerschaftswahl 2020 nach letzten Umfragen und den Bezirkswahlen im Mai als einzige Machtperspektive ebenfalls die Rolle als Juniorpartner der Grünen.

· Bayerns Ministerpräsident und Basti-Spezl Markus Söder gab zwei Jahre lang den rechten Hilfspopulisten, was die AfD nicht vom Einzug in den Landtag in München abhielt (im Gegenteil!). Statt mit den erstarkten Grünen zu koalieren, teilte er die Macht geräuscharm mit den Freien Wählern und erlitt kurz darauf bei einem Volksbegehren zum Artenschutz eine derart schmerzende Watsch'n, dass er das Begehren eins zu eins zum Gesetz machen musste und seitdem öffentlich Bäume umarmt, um sich gegen den pro-grünen Trend zu immunisieren. Sein Vorgänger Seehofer als Regierungschef und CSU-Vorsitzender gibt jetzt den Seenotretter. Ausgang offen.

Es ist nicht mehr 2002

Aber wer 2002 und 2019 als Ausgangspunkt von VP-Grünen-Sondierungen vergleicht, wird auch eine andere, wichtige Veränderung verzeichnen, die seltsam unterbelichtet bleibt: Während die westösterreichische ÖVP seinerzeit nichts mit den Grünen zu schaffen hatte und ihre Landeshauptleute im Gegenteil sogar zwei wichtige Akteure ins Kabinett Schüssel II schickten (Hubert Gorbach, FPÖ, aus Vorarlberg; Günther Platter, ÖVP, aus Tirol), stehen Innsbruck, Bregenz und zuletzt (mit Sepp Schellhorns Neos) auch Salzburg heute für vertrauensvolle schwarz-grüne Koalitionen. Die ÖVP muss sich also diesmal nicht neu erfinden, sie muss sich nur neu zentrieren.

Für immer grün

2002 schrieb ich im STANDARD-Gastkommentar mit Blick auf Schwarz-Grün zudem von einer "Nachhaltigkeitskoalition der wachsenden gesellschaftlichen Mitte", was damals poetisch ansprechend, aber politisch nicht belegbar erscheinen konnte. Die Zeit hat es erwiesen: Wo immer die Grünen in Europa zulegen, tun sie dies vor allem in den jüngeren Wählerschichten. Anders als von Christdemokraten (und nicht nur von ihnen) erhofft, ändern sich die Wert- und Wahlpräferenzen älter werdender Grün-Wähler aber nicht, sondern bleiben konstant. Für die Christdemokraten ist das einerseits bitter: Oft erreichen sie nur noch bei über 60-Jährigen eine relative Mehrheit. Und während Jahr für Jahr CDU- oder ÖVP-Wähler sterben, wachsen Grün-Wähler nach. (Die ÖVP hat den Effekt, verglichen mit der CDU/CSU, klug minimiert, weil sie sich selbst demonstrativ verjüngt hat, das ändert aber nichts an der gegenläufigen Altersverteilung von schwarzen/türkisen und grünen Wählern.)

Ohne Verbiegen

Wenn man die Grünen zu Hauptgegnern erklärt, wie zuletzt CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer, beschleunigt man diesen unausweichlichen demografischen Effekt auch noch demoskopisch. Entscheidet man sich dagegen für die neue Koalition der politischen Mitte, macht man ihn sich zunutze: Die Grünen wirken dann wie eine Ergänzungslieferung; die Koalition bleibt absehbar stabil und mehrheitsfähig, ohne dass sich einer der Partner verbiegen muss.

Gerne wird an dieser Stelle in Talkrunden oder auch tiefer reichenden Analysen auf mangelnde Schnittmengen oder inhaltliche Widersprüche zwischen den beiden Parteien verwiesen. Dazu zwei Anmerkungen: Koalitionen sind keine Fusionen. Es sind Bündnisse, die nicht die Parteien, sondern die Wähler in ihrer kollektiven Weisheit erzeugt haben.

Spannungen aushalten

Sie können und müssen Spannungen aushalten und dabei den Wertewandel in Gesellschaften moderieren, um ihn nicht zur Zerreißprobe werden zu lassen. Insofern ist Schwarz-Grün eine nachhaltige Koalition. Ihre Wählerschaft ist demografisch stabil, und das politische Bündnis ist von außen – ob von rechts oder von links – schwer auszuhebeln.

Avantgardistisch ist die Koalition ohnehin nicht mehr, und riskant auch nicht. Wenn sich die Parteien die Politikfelder (auch in den Ressorts) klug aufteilen, können beide, auch in ihre jeweilige Wählerschaften hinein, zuverlässig "liefern" – bei einem vertrauensvollen und transparenten politischen Antagonismus, der durch die geteilte Regierungsverantwortung vor einem Auseinanderdriften geschützt wird.

Bloß keine Schnittmengen

Und der zweite Hinweis: Parteien in Koalitionen, die sich große Schnittmengen bescheinigen, sind in Wahrheit im politischen Wettbewerb fehlaufgestellt. Und in Koalitionen machen sie sich regelmäßig gegenseitig die Erfolge streitig. Das konnte man nicht nur bei Schwarz-Blau in Österreich, sondern auch bei Rot-Grün in Deutschland 1998 bis 2005 sehen. Übrigens auch schon 2002.

Willkommen zurück an der Kreuzung. Aber inzwischen gibt es ja erfahrungsgespeiste Navigationssysteme. (Markus Schubert, 4.10.2019)