Foto: Bastei Lübbe

Unplanmäßig gelaufen, aber mit gutem Ausgang. Ursprünglich hatte ich mir nämlich vorgenommen, mich darüber hinwegzuschummeln, dass ich Theresa Hannigs 2017er Roman "Die Optimierer" nicht gelesen hatte, zu dem "Die Unvollkommenen" nun die Fortsetzung bildet. Nach ein paar Seiten habe ich mich dann aber umentschieden und mir doch erst mal den Auftaktband genehmigt. Und das war gut so. Nicht, weil man "Die Unvollkommenen" sonst nicht verstehen würde. Das ginge relativ problemlos. Sondern weil sich "Die Optimierer" als das bessere Buch erwiesen hat – zumindest das sollte man gelesen haben. Die Fortsetzung ist optional.

Optimale neue Welt

Mitte des 21. Jahrhunderts steht die vom Rest der Welt abgeschottete Bundesrepublik Europa (BEU) im Zeichen der Optimalwohlökonomie. Es ist – siehe etwa Jens Lubbadehs Roman "Neanderthal" eine irgendwie typisch deutsche Dystopie, die die bayerische Autorin Theresa Hannig hier zeichnet. Die De-facto-Diktatur hat nicht die Unterdrückung der Bevölkerung zum Ziel, sondern deren Wohlergehen. Allerdings kennt diese Herrschaft der Vernunft auf jede Frage nur eine Antwort, und Widerspruch wird nicht geduldet: "Heutzutage ist alles alternativlos."

Die BEU hat das Konzept vom gläsernen Bürger zur Perfektion erhoben. Jeder trägt seine Datenwolke für alle anderen einsehbar vor sich her – egal, ob es um Gesundheit, Finanzen oder Sexualverhalten geht. Selbst Tagebucheinträge sind nicht mehr privat. Die Überwachung wird damit nicht nur vom Staat abgewickelt, die Bürger halten einander wechselseitig unter Kontrolle.

Prägnantester Ausdruck dieses ebenso passend wie böse Blockwart genannten Systems ist der Stand an "Sozialpunkten", den jeder Bürger hat. Für Wohlverhalten (inklusive Denunziation) gibt's Punkte, für jede kleine Missetat werden welche abgezogen. Je niedriger der Stand, desto stärker werden die Bürgerrechte eingeschränkt. Am unteren Ende der Skala wird man dann ins Internat gesteckt oder gleich in ein künstliches Koma versetzt.

Rückblick auf "Die Optimierer"

Foto: Bastei Lübbe

Auf wen genau sich der Titel des ersten Bands bezieht, ist gar nicht so leicht zu sagen. Mit den Optimierern könnte die gleichnamige Partei gemeint sein, aber auch die immer menschenähnlicher werdenden Roboter, die ihren biologischen Vorbildern in Sachen Effizienz allmählich den Rang ablaufen. In Frage käme aber auch ein ganz besonderer neuer Berufszweig, nämlich die sogenannten Lebensberater. In einem Staat, in dem die übliche Grußformel "Jeder an seinem Platz" lautet, reisen sie durchs Land, evaluieren Bürger und erklären ihnen, für welchen Beruf sie geeignet sind. Wer für nichts so recht taugt, muss sich mit Dauerfreizeit bei Grundeinkommen abfinden – der darf sich dann gar keine Arbeitsstelle mehr suchen ...

Ein solcher Lebensberater war der Protagonist des ersten Bands, und dessen unaufhaltsamer Abstieg verlieh dem Roman die Dynamik. Denn niemand könnte systemtreuer sein als Samson Freitag (ein Name, der natürlich automatisch an Guy Montag aus Ray Bradburys "Fahrenheit 451" denken lässt). Doch das Schicksal spielt Samson übel mit: Ohne dass er die geringste Schuld daran trüge, reiht sich bald ein Vorfall, der ihn in Misskredit bringt, an den anderen. Und so muss er hilflos mitansehen, wie sein Punktestand immer weiter sinkt. Das System frisst seine Kinder.

+++ Achtung, Spoiler-Grenze! +++

Die Fortsetzung "Die Unvollkommenen" schwenkt nun auf eine Figur um, die im ersten Band nur in einer Nebenrolle auftrat. Paula Richter alias Lila begegnete Samson als Angehörige einer – recht unprofessionellen – Widerstandszelle. Wie wir nun erfahren, wurde sie unmittelbar nach den Ereignissen von "Die Optimierer" verhaftet und ein paar Jahre ins Koma versetzt. Nun tritt sie ihre Strafe in einem der besagten Internate an. Die Villa Baltic mag oberflächlich betrachtet wie ein Urlaubsdomizil der Luxusklasse wirken. Doch schon der zweite Blick zeigt: Statt dem obligatorischen Willkommensbonbon liegt auf dem Hotelkissen eine Selbstmordpille ... Natürlich schmiedet Lila bald Fluchtpläne.

Draußen in der Welt – wer Band 1 noch nicht gelesen hat, sollte spätestens hier stoppen! – ist die gesellschaftliche Entwicklung derweil fortgeschritten. An der Spitze der BEU steht nun als Herrscher von Ewigkeit zu Ewigkeit niemand anderer als Samson Freitag, der als Künstliche Intelligenz "wiedergeboren" wurde. Mit annähernder Allmacht ausgestattet, hat er die Bevölkerung unter Kontrolle, jeder Widerstand scheint zwecklos. "Es gibt keine Revolution mehr. Das hier ist das Ende der Geschichte, das Ende der Zeit. Ich habe das Optimum erreicht. Danach kommt nichts mehr auf dieser Welt." Nur dass er Lila noch für eine ganz bestimmte Aufgabe braucht, lässt einen kleinen Funken Hoffnung bestehen.

Unterschiede zu Band 1

"Die Optimierer" wies eine bemerkenswerte Effizienz auf. Die Sprache war bewusst schlicht gehalten, der Fokus blieb – keineswegs selbstverständlich bei einem Roman – die gesamte Zeit über auf eine einzige Person und deren Chronologie gerichtet. Zudem waren wir ständig in Bewegung. Die Geschichte schrieb sich fast von selbst, so zielgerichtet lief sie ab. "Die Unvollkommenen" ist dagegen deutlich statischer gehalten – eine typische Situation im neuen Roman ist das tiefgründige Gespräch am Esstisch.

Insgesamt hat "Die Unvollkommenen" etwas ... ja, Theaterhaftes. Nach der Villa Baltic, die mit ihren Freizeitprogrammen ganz auf Ruhigstellung und Verdummung der Insassen angelegt scheint, landen wir nach einem kurzen Flucht-Zwischenspiel schon in der nächsten kulissenartigen Umgebung. Diesmal ist es ein staatliches Modelldorf, das mit seinem Zusammenleben von Menschen und Robotern ungemütlich an Stepford erinnert.

Zudem werden wir in eine Reihe von Inszenierungen versetzt, die ihrerseits reif für die Bühne wären – ob öffentliche Beichtzeremonie, Samsons messianische Predigten oder die sogenannte Richtung: eine psychedelische Konfrontation mit der eigenen Persönlichkeit und den (angeblichen) Konsequenzen der eigenen Handlungen. Nimmt man dazu noch die Auftritte seltsamer Figuren wie den eines entstellten Roboters oder einer Doppelgängerin, dann wundert es mich nicht mehr, dass mich zwischendurch ein ähnliches Gefühl der Unwirklichkeit beschlichen hat wie anno dunnemals in der legendären TV-Serie "Nummer 6" ("The Prisoner"). "Die Unvollkommenen" mag ein Stück kunstvoller sein als sein Vorgänger, ist dadurch aber auch ein ebenso großes Stück künstlicher.