Bei vielen Türken wächst der Unmut über die Allmacht von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan.

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Einwanderer ist man im Istanbuler Stadtteil Küçükçekmece gewohnt. "In dieser Straße hier leben die Leute aus Trabzon", sagt Friseur Sener Seker. "In der nächsten die aus Tokat und dahinter die Syrer." Küçükçekmece liegt im europäischen Teil der Stadt, das Zusammenleben funktionierte in den vergangenen Jahren zumeist reibungslos. Doch mit der Wirtschaftskrise entlädt sich der Frust vieler Türken auf die Neuankömmlinge – aber auch auf die Regierungspartei AKP.

"In letzter Zeit sind hier viele mit der Politik nicht mehr zufrieden", sagt Seker. Rund 60 Prozent der Wähler stimmten in diesem Wahlbezirk im Juni bei der Wahl zum Bürgermeister von Istanbul für Ekrem Imamoglu, den Kandidaten der Opposition. Noch ein Jahr zuvor hatte die AKP bei den Präsidentschaftswahlen hier die Mehrheit erlangen können.

Abgesänge auf die AKP gab es schon immer, jetzt aber summieren sich die Spannungen: "Zur Rezession kommen eine innerparteiliche Krise und internationale Probleme hinzu", sagt Yasar Aydin, Ökonom und Sozialwissenschafter an der evangelischen Hochschule in Hamburg. "Das ist eine einmalige Situation, in dieser Form schon eine historische Krise."

Unmutfaktor Rezession

Schuld daran ist vor allem die Wirtschaftskrise. Seitdem die türkische Lira im vergangenen Sommer innerhalb weniger Wochen 40 Prozent ihres Wertes verloren hat, kämpft die Türkei mit einer Rezession. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 13,8 Prozent. Nur mit verzweifelten Stützungskäufen konnte die Zentralbank den Kurs stabilisieren; doch Investitionen aus dem Ausland fehlen, nicht zuletzt wegen der schwächelnden Weltkonjunktur.

Bei vielen Türken wächst auch der Unmut über die Allmacht Erdoğans und seines Schwiegersohns Berat Albayrak, der seit mehr als einem Jahr Finanzminister ist. 2017 stimmte eine knappe Mehrheit für die Verfassungsänderung und die Einführung des Präsidialsystems, weil man sich eine effizientere Regierung und Reformen erhoffte.

Die Hoffnungen blieben unerfüllt. Im Unterschied zu früher kann der Präsident nun niemand mehr die Schuld geben. "Die alte Strategie der Dämonisierung funktioniert nicht mehr", sagt Aydin. Auch innerhalb der AKP wächst der Unmut über die neue Machtfülle und den immer kleiner werdenden Kreis um Erdoğan.

Abspaltungen von der AKP

Gleich zwei Parteien spalten sich gerade von der AKP ab. Der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu hat im September die Partei verlassen, um eine religiösere Variante der AKP zu gründen. Auch Ex-Präsident Ahmet Gül und der in Wirtschaftskreisen hochgeschätzte Ali Babacan planen ebenfalls eine neue Partei, die an die liberalen Anfangsjahre der AKP anknüpfen soll. Doch (noch) sind die Bewegungen zu klein, um die AKP nachhaltig zu gefährden. Trotzdem müsse Erdoğan diese Gegner ernst nehmen, meint Aydin. "Es ist zwar nicht die erste Abspaltung in der Geschichte der AKP, aber frühere fanden in einer Phase der Stärke statt."

Noch immer gelingt es Erdoğan, breite Wählerschichten anzusprechen. Damit konservative und religiöse Wähler ihre Stimme nicht mehr der AKP geben, muss viel geschehen. Bei vielen Bürgern ähnelt das Wahlverhalten der Beziehung zu einem Fußballverein: Den wechselt man auch nicht, bloß weil es dieses Jahr mit der Meisterschaft nicht geklappt hat.

Auch Friseur Seker in Küçükçekmece bleibt trotz Unzufriedenheit Fan von Erdoğan. Noch wirkt der gewaltige Wirtschaftsaufschwung der Anfangsjahre der AKP positiv nach. Doch die nächsten Wahlen finden 2023 statt – und bis dahin kann in der schnelllebigen türkischen Politik noch viel geschehen. (Philipp Mattheis aus Istanbul, 7.10.2019)