Das wilde Rauschen des Baches übertönt die unerträgliche Stille. Im Kitzbüheler Stadtteil Vordergrub, fast ganz oben, wo die Straße aufs Horn startet, passierte Sonntagmorgen das Unfassbare. Andreas E. (25) löschte eine ganze Familie, fünf Menschen, aus. Das rot-weiße Polizeiabsperrband verrät den Tatort, ein unscheinbares Einfamilienhaus. Nachbarn haben Blumen und Kerzen an der Hofeinfahrt hinterlassen. Das ist alles, was von der Mordtat blieb.

Die Spurensicherung scheint Montag abgeschlossen, der Platz verwaist. Nur ein deutsches Kamerateam steht am Straßenrand und bereitet seinen Dreh vor. Im selben Moment stoppt ein Auto mit Kitzbüheler Kennzeichen. Die beiden Insassen betrachten skeptisch die Journalisten, bevor die Frau aussteigt und wortlos eine Blume vor der Hauseinfahrt niederlegt. Ihr Kopf ist gesenkt, ihre Schritte hastig, sie vermeidet jeden Blickkontakt und zieht sofort wieder die Autotür hinter sich zu. Niemand hat das Bedürfnis, mit den Medien zu sprechen, der ganze Ort ist sprachlos.

Kerzen wurden vor dem Wohnhaus der Familie H. abgestellt.
Foto: APA/Expa/Johann Groder

"Familien aus unserer Mitte"

Schwarze Fahnen verleihen der kollektiven Trauer Ausdruck. Etwa vor dem Rathaus, wo Stadtamtssprecher Felix Obermoser um die richtigen Worte ringt: "Jeder im Ort hat irgendeinen Bezug, eine Geschichte zu den Opfern oder dem Täter zu erzählen. Das macht es so schwierig." Es ist die Frage nach dem Warum, die so quält. Sie wird unangenehme Antworten liefern, das weiß auch Obermoser: "Denn es waren keine Familien vom Rand, sondern direkt aus der Mitte unserer Gesellschaft."

Das Motiv des Fünffach-Mörders wird von Ermittlern im "Bereich einer Zurückweisung nach Beendigung einer Beziehung" vermutet. Vor etwa zwei Monaten beendete Nadine H. nach rund fünf Jahren ihre Beziehung mit dem Täter E.. "Das ist leider symptomatisch", sagt Rosa Logar, Leiterin der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt an Frauen. "Die meisten schweren Gewalttaten passieren in der Trennungszeit. Es ist die gefährlichste Zeit für Frauen." Es ist ein Mythos, dass die größte Gefahr für Frauen in der dunklen Ecke eines Parks lauert", sagt Logar. "Bei den meisten Taten standen Opfer und Täter in einer Beziehung zueinander." Es sei meist eine Form von extremem Besitzdenken, das hier durchschlage. Täter denken sich: "Wenn du nicht mir gehörst, sollst du niemandem gehören."

Am Kitzbüheler Rathaus wurde eine schwarze Fahne als Zeichen der Trauer angebracht.
Foto: APA/Expa/Johann Groder

Das könne nicht nur die neuen Partner betreffen – auch der neue Freund der 19-Jährigen, ein 24-jähriger Eishockeyspieler, wurde getötet – sondern auch das familiäre oder soziale Umfeld. Es komme nicht selten vor, dass auch Menschen, die eine etwa von Gewalt betroffene Person unterstützen, ebenfalls Opfer von Gewalt werden. "Hier von bloßen, so genannten Familientragödien zu sprechen ist eine fatale Fehleinschätzung", sagt Logar.

Eine gewalttätige Haltung entstehe meist nicht spontan, meint die Expertin. Schon wenn man Anklänge von Besitzdenken vernehme, müsse man hellhörig werden: "Jede Form der Gewalt muss ernst genommen werden." Auch vom sozialen Umfeld, denn Betroffene hätten oft das Gefühl, dass sie mit ihrem Problem alleine wären. Ob solche Zeichen im Fall Kitzbühel gab und ob diese womöglich übersehen wurden, ist eine der unangenehmen Fragen, die sich stellen.

Hilfe bei der Aufarbeitung bietet das Kriseninterventionsteam (KIT) des Roten Kreuzes. "Wir sind heute mit 16 Mitarbeitern im Einsatz", erklärte Gerhard Müller am Montag. Es sind Bekannte, Freunde, Kollegen der Opfer wie auch des Täters, die Hilfe brauchen. Müller und sein Team haben über der Feuerwehr Quartier bezogen. Die Dimension des Falles ist enorm: "Wir mussten zuerst selbst herausfinden, wer von uns betroffen ist und Beteiligte kennt. Wir haben die Beziehungen auf einer Flipchart aufgemalt." Kollegen, die zu nah am Geschehenen sind, könne er nicht einsetzen.

Auch der lokale Eishockeyverein, die Kitzbüheler Adler, sind betroffen. Vor der Eishalle weht die schwarze Fahne. Florian J. hatte am Samstagabend seinen ersten Auftritt als Goalie des Zweitligisten. Der 24-Jährige wurde dabei zum "Man of the Match" gewählt. Wenige Stunden später war er tot. Das Auto des Oberösterreichers steht am Montag noch in der Einfahrt des Hauses der getöteten Familie. Er war der neue Freund der 19-jährigen Tochter des Hauses, das wurde ihm zum Verhängnis. Im Verein ist man fassungslos, "die Zeit steht still", verlieh Klub-Präsident Volker Zeh, seiner Trauer Ausdruck.

Die polizeilichen Untersuchungen vor Ort wurden noch am Sonntag durchgeführt. Das Haus der Familie H. ist abgesperrt.
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Das Weitermachen

Schwarz beflaggt ist auch das Büro des berühmten Kitzbüheler Skiclubs. "Wahrscheinlich war eines der Opfer Mitglied. Das sind viele von uns" ,erklärt Stadtamtssprecher Obermoser. Die Mutter des Täters half bei den jährlichen Hahnenkammrennen auch im Skiclub mit. Obermoser kennt sie gut und trauert auch mit ihr. Man dürfe diese Familie nicht vergessen, sie leide enorm und sei ebenfalls unschuldig: "Die sind ja auch seit ihrer Geburt hier verankert, die können ja jetzt nicht einfach Kitzbühel verlassen."

Die Stadt wird einen Weg finden müssen, mit dem Geschehenen weiterzuleben. Das wird nicht einfach, wie schon das banale Beispiel der Beerdigung der Opfer zeigt. Weil eine ganze Familie ausgelöscht wurde, gilt es nun Verwandte zu suchen, die sich um den Nachlass und die Bestattung kümmern. Auf Obermosers Schreibtisch liegt der Entwurf einer Parte für die Familie. Er hat ihn selbst gemacht. Irgendwer müsse es schließlich tun. (Vanessa Gaigg, Steffen Arora, 7.10.2019)