Der Vorarlberger und die Vorarlbergerin fühlt sich meist als etwas Besonderes, als nur teilweise Österreich zugehörig und irgendwie anders. Tatsächlich gibt es einige historisch gewachsene Besonderheiten, ob diese das Ländle so völlig anders macht, wie es viele Vorarlberger gern hätten, ist allerdings damit noch lange nicht gesagt.

Die auffallendste politische Besonderheit Vorarlbergs ist mit Sicherheit der Mangel einer einflussreichen Arbeiterbewegung und einer klassenbewussten Arbeiterklasse. Selbstverständlich gibt es eine SPÖ, und bis zum Tod ihres letzten Mitglieds gab es sogar eine KPÖ westlich des Arlbergs. Die SPÖ war allerdings immer stark von den Nachkommen der aus dem norditalienischen – damals noch österreichischen – Trient stammenden Arbeitsmigranten geprägt und später von "Innerösterreichern", wie die Vorarlberger alle östlich des Arlbergs zu nennen pflegten. Außerhalb der Eisenbahnerstadt Bludenz und – aufgrund der Ungeschicklichkeit der lokalen ÖVP – für einige Jahre außerhalb der Landeshauptstadt Bregenz hatte die SPÖ aber nirgendwo etwas zu sagen. Sozialdemokraten blieben überall Außenseiter, wer ein "ghöriger Vorarlberger" war, war bis in die 80er-Jahre hinein schwarz und katholisch.

Alles darfst sein, nur kein Roter

Vielleicht hat es mit der Realerbteilung zu tun, die in Vorarlberg kein klassenbewusstes Proletariat entstehen ließ, da jede Arbeiterfamilie auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg einen Acker, eine Kuh und ein Schwein hatte und sich eher als bäuerlich als proletarisch wahrgenommen hatte. Die enge Verknüpfung aus katholischer Kirche und politischem Katholizismus und die Selbstdiskreditierung des Liberalismus, der in den 1930er-Jahren völlig im Nationalsozialismus aufgegangen war, taten ihr Übriges.

Zwei Faktoren unterstreichen die Sonderrolle Vorarlbergs, in der die "Roten" immer als "fünfte Kolonne" Wiens, also eine Art Untergrundgruppe, die den Sturz des bestehenden Systems anstrebt, gesehen wurden: zum einen die Anschlusspläne an die Schweiz, die Vorarlberg nach dem Ersten Weltkrieg allerdings nur zum "Kanton Übrig" machten, da die Schweiz mit dem katholischen Vorarlberg nicht das komplexe konfessionelle Gleichgewicht zwischen Calvinisten und Katholiken durcheinanderbringen wollte. Zum anderen der Alemannen-Mythos, der auch eine ethnische Differenz zum Rest Österreichs behauptete. Am Ende des 20. Jahrhundert weichte sich dies langsam etwas auf. Irgendwann konnte man auch "ghörig" und Grüner sein, Roter aber nicht.

Liberales Vorarlberg

Überhaupt wurde Vorarlberg gegen Ende des 20. Jahrhunderts das, was es vor der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts und vor dem Durchmarsch des politischen Katholizismus schon einmal war: liberal, und das in einem umfassenden Sinne, gesellschaftlich, politisch und ökonomisch. Hielten in meiner Jugend nichtheterosexuelle Jugendliche ihre sexuellen Vorlieben noch tunlichst geheim, gibt es mittlerweile sogar schon in Vorarlberg eine Pride-Parade. Flüchtlinge und Migranten sind so lange willkommen, solange sie "Ghörige" sind, also sich genauso zu Tode arbeiten wie die Vorarlberger selbst, um mit dem Ersparten dann irgendwann ein ersehntes "Hüsle" zu bauen. Wirtschaftlicher Erfolg und unauffälliges Verhalten im Alltag sind die Kriterien gesellschaftlicher Akzeptanz. Die Herkunft mag wichtig sein, wahrscheinlich aber eine Spur weniger wichtig als in anderen Teilen Österreichs. Schließlich wurden ja in den 1960er-Jahren die "Innerösterreicher" auch schon als Ausländer betrachtet, konnten aber trotz gesellschaftlicher Diskriminierung nicht von ihrer Integration in die Vorarlberger Gesellschaft abgehalten werden.

Das Problem mit Wien

Vorarlberg ist ein kleines Bundesland mit wenig politischem Gewicht in der österreichischen Bundespolitik. Manch Vorarlberger betrachtet dies als Ungerechtigkeit und schimpft bis heute bei jeder Gelegenheit auf Wien. "Wienkritik" ist auch ein beliebtes politisches Mobilisierungsinstrument. Je nach bundespolitischem Trend kann dies zu einer reaktionäreren oder progressiveren Haltung im Ländle führen, nur ja nicht zu politischem Gleichklang.

Mit der türkisen Umfärbung der ÖVP hatten die Ländle-Schwarzen deshalb so ihre Probleme. Gestandene Vorarlberger Unternehmer ließen sich nicht gern von einem jungen Wiener Emporkömmling sagen, dass sie nun der Abschiebung ihrer Lehrlinge zustimmen sollten. Dass Vorarlberg so schwarz ist, dass selbst die Arbeiterkammer schwarz ist, hat die türkise Sozial- und Wirtschaftspolitik nicht unbedingt populärer gemacht. Schließlich regierte man hier mit Grün statt mit Blau, was die Landes-ÖVP zu einem permanenten Spagat zwischen Koalitionspartner und türkisem Rechtspopulismus zwang.

Unter den Organisatoren der sogenannten Sonntagsdemonstrationen, die sich an der Abschiebung gut integrierter Flüchtlinge, die als Lehrlinge einen wichtigen Beitrag für die lokale Wirtschaft leisteten, entzündet hatten, befanden sich nicht wenige Funktionäre und Mitglieder lokaler ÖVP-Ortsgruppen, die sich mit Vertretern von Menschenrechtsgruppen und Religionsgemeinschaften bis hin zu linken Aktivisten jede Woche zu Protesten versammelten.

Unentspanntes Verhältnis

So tolerant sich das Bundesland gegenüber arbeitswilligen und arbeitsfähigen Migranten gibt, so problematisch ist immer noch der Umgang mit religiöser Vielfalt. Das einst zutiefst katholische Bundesland, in dem es nur einige kleine protestantische Kleingemeinden gab, beherbergt heute orthodoxe Christen, verschiedenste Evangelikale, Zeugen Jehovas, Muslime, Aleviten, Buddhisten und eine wachsende Zahl Konfessionsloser.

Während sich kaum jemand an Evangelikalen und Buddhisten stört, ist das Verhältnis zu den Muslimen immer noch unentspannt. Vor zehn Jahren beschloss der Vorarlberger Landtag nach der Volksabstimmung über ein Minarettverbot in der Schweiz eine Bauordnung, die explizit darauf abzielte, ein solches Minarettverbot auch in Vorarlberg umzusetzen. So reinschreiben konnte man das wegen Verfassungswidrigkeiten natürlich nicht. Trotzdem wurde es genau so in der Öffentlichkeit verkauft, und tatsächlich hatten entsprechende Bauvorhaben wie etwa die erst letztes Jahr eröffnete neue Atib-Moschee in Bludenz dann mit genau diesen Vorgaben zu kämpfen und verzichteten schließlich "freiwillig" auf ein Minarett.

Ungewisse politische Zukunft

Die Vorarlberger ÖVP hat als Koalitionspartner der Grünen in den letzten Jahren den Spagat zwischen Schwarz und Türkis versucht – ein Spagat, der im vergangenen Jahr immer schwieriger wurde. Für Landeshauptmann Markus Wallner war der Bruch der Koalition in Wien damit wohl eine Erleichterung.

Landeshauptmann Wallner setzt die schwarze Regierung in Vorarlberg weiter fort. Wer mit ihm in Zukunft koalieren wird, entscheidet sich am Sonntag.
Foto: APA/JOCHEN HOFER

Niemand zweifelt daran, dass die ÖVP wieder den nächsten Landeshauptmann stellen wird. Dass die Koalition mit den Grünen fortgesetzt wird, steht allerdings noch lange nicht fest. Wallner gilt als Pragmatiker, der grundsätzlich mit jedem regieren kann, der das Regieren der ÖVP überlässt. Die Vorarlberger Grünen mussten für ihre Koalition in Kernfragen, wie etwa der Verkehrspolitik, große Abstriche machen. So mussten die Landesgrünen etwa der Errichtung eines für das Land fast unfinanzierbaren unterirdischen Kreisverkehrs und Tunnelsystems in Feldkirch zustimmen, der in der nächsten Legislaturperiode errichtet werden soll. Selbst ÖVP-Politiker wunderten sich damals über die Kompromissbereitschaft der Grünen.

Auch wenn es neben den bestehenden Landtagsparteien mit der türkischen Migrantenliste Heimat aller Kulturen (HAK), der Männerpartei, dem linken "Wandel", der "Liste Xi – Chance Zukunft", der "Liste WIR – Plattform für Familien und Kinderschutz", der Christlichen Partei Österreichs und der "Liste Jede Stimme Gilt" eine Vielzahl weiterer Kandidaturen gibt, ist der Einzug neuer Listen unwahrscheinlich.

Ob Wallner damit nach den Wahlen mit den Grünen, der FPÖ, der SPÖ oder den Neos regieren wird, wird wohl ausschließlich davon abhängen, wer für ihn am Ende der billigere Koalitionspartner ist. Mit den Grünen hat die Zusammenarbeit in den letzten Jahren gut funktioniert. Die ÖVP musste wenige Abstriche machen. Der pragmatische Liberale Wallner könnte aber auch mit fast allen anderen. Nun sind erst einmal die Wähler am Wort. (Thomas Schmidinger, 11.10.2019)