Zehn Plastikteller stehen auf dem Tisch, auf jedem die gleiche Portion: Schweinefleischtaschen, Käsestrudel und fünf, sechs Wursträder, daneben stehen ein paar Gläser Rakija – bulgarischer Obstschnaps. Auf der einen Seite hängen hinter den älteren Frauen eine Tracht und Kinderzeichnungen – ein Regenbogen, ein Löwe, ein Haus –, auf der anderen scheint graues, trübes Licht durch die Rollläden. Heute Vormittag hängt der Nebel tief in den Bergen, in die das nordbulgarische 250-Seelen-Dorf Krapets eingebettet ist. Räume wie dieser machen, so schlicht sie sind, jene Flecken, von denen die meisten nur wegwollen, lebenswert für diejenigen, die bleiben.

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Geschichten über Bulgarien, egal ob sie in Westeuropas Zeitungen stehen oder an Osteuropas Wirtshaustischen erzählt werden, folgen stets demselben Schema: Das Land ist alt und arm, hat seinen Bewohnern nichts zu bieten und schrumpft deshalb schneller als jeder andere EU-Mitgliedsstaat. Tausende wandern jedes Jahr aus, Zigtausende mehr sterben, als geboren werden. Und Hunderttausende gehen in andere Länder, um dort zu arbeiten. Kein Land in der Union hat einen so geringen Mindestlohn, er liegt bei gerade einmal 286 Euro im Monat.

Die Bibliothekarin

Geschichten über Bulgarien können aber auch Geschichten über Frauen wie Elena Tsvetkova Vasileva sein. Mit einem Lächeln im dunklen, schmalen Gesicht schenkt die Bibliothekarin Schnaps nach, stöbert hier nach einer Bierflasche, dort nach Limonade und wieder woanders nach Besteck und Salzbrezen. Sie wurde vor gut fünfzig Jahren in Krapets geboren, in einem Dorf, das man zu Fuß in wenigen Minuten durchquert hat, einem Dorf, das nicht viel mehr bietet als eine Kirche, einen kleinen Supermarkt und zwei Kaffeehäuser. Seit die Brotfabrik zugesperrt hat, gibt es nicht mehr viele Jobs hier, die meisten leben von der Landwirtschaft. Alte leben von der Hand in den Mund, die bulgarische Pension reicht oft nicht aus, um das Haus zu heizen.

Elena Tsvetkova Vasileva gründete vor zehn Jahren eine Bibliothek in Vratsa.
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Und doch ist Krapets eines der Dörfer, in denen die Welt noch halbwegs in Ordnung zu sein scheint, ein Dorf, in dem zumindest die Bevölkerungszahl recht konstant bleibt, sagt Tsvetkova Vasileva. Weil es gut angebunden ist, an zwei kleinere Städte, sagt sie. Vielleicht liegt es aber auch an Frauen wie Tsvetkova Vasileva, dass die Leute bleiben. Vor zehn Jahren, damals waren hier nur Müll und Mäuse, sagt sie, hat sie eine Bibliothek aufgebaut, die mehr ist als ein Ort, an dem man Bücher liest. Sie hat hier einen Platz geschaffen, an dem Alte zusammenkommen, an dem Kinder ins Internet gehen können und an dem 40 Stunden die Woche Tsvetkova Vasileva und ihre Bücher ein Zuhause bieten.

Nur noch fünf Millionen Leute in 20 Jahren

Krapets liegt in der Region Vratsa, einer der ärmsten in Bulgarien und derjenigen, die am zweithäufigsten verlassen wird. Aktuell leben etwa 165.000 Leute in der Region, noch 2012 waren es 185.000. In Nachbardörfern haben längst Schulen geschlossen. Das nächste Spital liegt in der Hauptstadt der Region, auch die heißt Vratsa und zählt 50.000 Einwohner. Sie ist ein Puzzle aus Parks voll grauhaariger Menschen, leeren Plätzen mit massiven Monumenten und Plattenbauten. Ein Hochhaus gleich bei der Ortseinfahrt hat einen blau gestrichenen Zubau, die zwölf Sterne der EU sind darauf gemalt.

Seit 2007 ist Bulgarien EU-Mitglied, seitdem steht die Tür ins Ausland offen.
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Seit 2007 ist Bulgarien EU-Mitglied, damit wurde seinen Bürgern die Tür in andere Länder geöffnet. Viele stürmten durch. Doch auch davor schon schrumpfte das Land – seit 1990 ging ein Fünftel der Menschen, zurück blieben etwa sieben Millionen im ganzen Land. Die UN prognostiziert, dass bis 2050 nur noch gut fünf Millionen übrig bleiben.

Aus allen Gesellschaftsschichten gehen die Bulgaren in den Westen. Von den 660.000 Menschen zwischen 15 und 64, die in einem anderen Land arbeiten, haben 230.000 einen niedrigen, 250.000 einen mittleren und 173.000 einen hohen Bildungsstand. Sie arbeiten als ITler oder Ärzte, sie gehen auf den Bau und in die Pflege oder karren Autos, die den Privilegierten nicht mehr gut genug sind, in den ärmeren Teil, um sie dort zu verkaufen. Aber: Sie treiben damit auch die Wirtschaft im Heimatland an. Daten der Weltbank zeigen, dass letztes Jahr über zwei Milliarden Euro von Auslandsbulgaren zurück ins Heimatland überwiesen wurden, das meiste Geld kommt aus den USA, aus Deutschland und aus Spanien.

Die Soziologin

Petya Slavova forscht an der Universität Sofia über die Gründe, warum Menschen ländliche Gegenden Bulgariens verlassen. Unweit vom Universitätsgebäude eilt sie eine Gasse entlang. "Es ist die öffentliche Umwelt, die nicht in Ordnung ist", sagt sie und zeigt auf zertrümmerte Gehsteigplatten. Endergebnisse ihrer Untersuchung wird sie im März haben, schon jetzt sagt sie: "Beinahe alle Aktivitäten der Regierung konzentrieren sich auf die Ballungszentren. Niemand kümmert sich um die ländliche Gegend." Natürlich gebe es Strategiepapiere, sagt Slavova, aber es gebe schlicht keine Finanzierungsmechanismen, um die Strategien umzusetzen. Und: "Programme, die von der EU kofinanziert werden, haben oft unbeabsichtigte negative Folgen, weil vor allem große Landwirte und monokulturelle Landwirtschaft profitieren", sagt sie.

Doch Slavova beobachtete in den letzten Jahren eine Tendenz. Von den höher Gebildeten, die das Land verließen, würden manche wieder zurückkommen, Schätzungen sollen von bis zu einem Drittel ausgehen. Sie selbst ist eine von diesen gebildeten Rückkehrern. Sie studierte in Belgien, heute kämpft sie in Sofia auf ihre eigene Art darum, das Leben in Bulgarien lebenswerter zu machen. Zum Beispiel dafür, dass sie als Soziologin forschen kann und nicht nur dafür bezahlt wird, bereits existentes Wissen weiterzuvermitteln. Weil der nationale Wissenschaftsfond – die einzige öffentliche Institution im Land, die Forschungen fördert – undurchsichtig ist, sagt sie, stoße sie auf viele Barrieren, wenn sie unabhängig forschen will. Sie ist auf europäische und internationale Förderprogramme angewiesen, und weil sie sich dabei in einen ungleichen Wettbewerb mit westlichen Kollegen begibt, ist jede Forschung eine Herausforderung. "Wir werden alleingelassen", sagt Slavova.

Petya Slavova will nicht nur lehren, sondern auch forschen.
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Oder indem sie protestiert. In Bulgarien herrscht keine breite Protestkultur, bei der letzten Sofia Pride waren 6.000 Menschen, während bei Wiener Regenbogenparaden hunderttausend durch die Straßen tanzen. Fridays For Future ist in Sofia zwar existent, aber nahezu unsichtbar. Ende Juli begannen die Bulgaren gegen den einzigen Kandidaten für den Posten des obersten Rechtsberaters der Regierung auf die Straße zu gehen. Er habe Verbindungen zur bulgarischen Mafia, sagten die Demonstranten. Slavova war bei einem der letzten Proteste gegen ihn dabei. "Wir waren 2.000 Leute", sagt sie.

Wahlbeteiligung: Ein Drittel

Mit dem Auswanderern geht Humankapital verloren, eine kritische Masse, das Engagement und der Idealismus der Jugend – schlicht: eine starke Zivilgesellschaft. In einem Land, in dem für Wählerstimmen bezahlt wird – so sagt es jeder, den man fragt –, hat die Jugend längst aufgegeben, aufzustehen. 17-Jährige erzählen, dass sie nicht wählen werden, sobald sie das Recht dazu haben, 27-Jährige schwadronieren von der Notwendigkeit einer blutigen Revolution. Die Wahlbeteiligung bei der heurigen Europawahl lag bei 32 Prozent.

Wer an der Uni Sofia studiert, macht das oft, um danach das Land verlassen zu können.
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Wie in vielen Gesellschaften, die mit Problemen kämpfen, wird auch in Bulgarien nach dem schwächsten Glied gesucht, auf das die Schuld abgewälzt werden kann. Hier sind es die Roma. Laut Europarat ist sind zehn Prozent der Bulgaren Roma, viele der restlichen 90 Prozent stigmatisieren sie. Zu viele Kinder würden sie bekommen, nur um dann vom Kindergeld zu leben, sagen manche. Tatsächlich liegt das Kindergeld in Bulgarien bei 25 Euro im Monat, selbst mit zehn Kindern kommt man damit nicht über die Runden, wenn die Milch im bulgarischen Supermarkt einen Euro, die Butter 2,50 kostet.

Fährt man in ein Romaviertel, sieht man geschäftiges Treiben, Frauen, die Kinder am Gehsteig entlang tragen, und junge Männer, die Möbelstücke über die kaputten Straßen schleppen. Man sieht aber auch, dass die dortige Bevölkerung sich selbst überlassen wird, man sieht Müll auf den Straßen und Dächer, die mit Decken geflickt werden.

Die Kinderbetreuerin

In der Roma-Community sind es vor allem die Männer, die ins Ausland gehen, sie landen in Westeuropa im besten Fall auf Baustellen, im schlechtesten Fall auf der Straße. Gleich zu Beginn der Romasiedlung neben dem Westpark Sofias ist an der linken Straßenseite ein türkiser Wellblechzaun. Dahinter führt der Weg in einen schmalen, langen Raum voll Spielzeug und dem Geruch von Paprika. Auch hier hängen Zeichnungen an der Wand: Fische, Kirchen und Blumen. Petya Mladenova leitet hier ein Zentrum, in dem jene Kinder betreut werden, um die sich die Eltern nicht kümmern können, weil zumindest ein Elternteil weg ist. Das Kindertageszentrum wird von der Caritas Steiermark unterstützt, etwa 40 Kinder sollen hier betreut werden. Jetzt ist der Raum leer, am Vormittag waren die zwei- bis fünfjährigen Kinder da, sagt Mladenova, später, nach Schulschluss, sollen die Älteren kommen.

Petya Mladenova gibt Romakindern eine bessere Perspektive.
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Mladenova denkt nicht daran, Bulgarien zu verlassen. Ein Kind auf dem Schoß, eines im Bauch: Die Familie ist es, die sie hier hält. Und Idealismus: "Wir können Teil der großen Veränderung sein, die wir so dringend brauchen", sagt sie, "wir müssen die gewöhnlichen Leute aufwecken, damit wir den Stillstand, den wir haben, beenden können." Sie leistet ihren Beitrag, indem sie Kindern einer Minderheit Bulgarisch beibringt und ihnen damit die Chance auf einen Job gibt.

In manchen Gegenden Vratsas gibt es nicht viel. Etwa in Tsakonitsa. 80 Leute sollen hier leben, sie alle sollen in Pension sein.
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Wenn der Staat Bulgarien darin versagt, sich um seine Bürger zu kümmern, und die Staatengemeinschaft EU wegsieht, wenn in einem ihrer Mitgliedsstaaten Korruption und Armut zum Alltag gehören, dann sind es engagierte Einzelpersonen, die mit kleinen Schritten ihr Leben und das ihres Umfelds verbessern. Dann sind es Menschen wie Petya Slavova, Petya Mladenova und Elena Tsvetkova Vasileva, die Anteil daran haben, dass sich das Land nicht noch schneller leert.

100 Kilometer nördlich, hinter den Bergen, sitzt in Krapets Elena Tsvetkova Vasileva nun allein in dem Raum, in dem am Morgen noch alte Damen über Tellern mit Wurstresten angestoßen haben. Im Nebenraum sind 3.700 Bücher in Regale gepfercht, die meisten von ihnen sind abgegriffen, die wenigsten lehrreich.

Tsvetkova Vasileva trägt sie seit zehn Jahren zusammen, sie alle sind Spenden. Viele holt sie zu Fuß ab, sie hat weder Auto noch Führerschein. Gelesen werden sie kaum. Erst vor kurzem gewann die Bibliothek eine Ausschreibung des Bildungsministeriums. Tsvetkova Vasileva durfte eine Liste an das Ministerium schicken, noch diesen Monat soll sie 100 Bücher bekommen. Sie entschied sie für Schulbücher. Tsvetkova Vasileva wird in weiteren zehn Jahren noch immer in Krapets sein, sagt sie. Und: "Krapets wird immer noch am Leben sein." (Gabriele Scherndl, 15.10.2018)