Seit ihrem 15. Lebensjahr schreibt Raphaela Edelbauer täglich. Mit 29 mischt sie jetzt die Szene auf.

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Soll die ersehnte Auffüllung nicht nur den Boden stabilisieren, sondern zudem ein dunkles Geheimnis für immer zudecken? Der jungen Physikerin Ruth war schon einiges seltsam vorgekommen am Örtchen Groß-Einland. Etwa dass die Stadt auf keiner Landkarte verzeichnet ist oder dass die Supermärkte dort Produkte wie Coca-Cola selbst brauen und in Kopien der Originalflaschen verkaufen. Dass eine Gräfin auf ihrem Schloss nicht nur die ganze Stadt besitzt, sondern noch dazu als deren oberste Behörde für alles fungiert, ist mitten in Österreich – sei es auch in der Provinz – auch ungewöhnlich.

Unter der Last der Geschichte

Doch so will es Raphaela Edelbauer. Mit Das flüssige Land hat die 29-jährige Wienerin einen Antiheimatroman geschrieben. Er handelt von einer Stadt, die unter der Last ihrer Geschichte im Erdboden einbricht. Damit steht die Autorin auf den Shortlists für den Österreichischen und den Deutschen Buchpreis, der am kommenden Montag vergeben wird. Beachtlich für ein Romandebüt, für Edelbauer aber auch nicht so überraschend.

Es ist ihr viertes Interview an diesem Tag. Sie hat einen starken Händedruck, in ihrer Freizeit rudert sie. Eindruck hinterlässt auch ihre Fokussiertheit. "Voraussehen kann man es nicht, aber ich habe damit kalkuliert", sagt sie über die zwei Nominierungen – auch wenn das "ein bisschen arrogant klingt".

Indizien traten in der Tat gehäuft auf. Zuerst bekundeten über zehn deutsche Verlage Interesse an dem Manuskript, dann konnte Edelbauer die Rechte für die englische Fassung bereits verkaufen, ehe die deutsche am Markt war. Für einen verwandten Text gewann sie beim Bachmann-Wettlesen 2018 den Publikumspreis.

Essays schreiben im Flug

Seit Edelbauer auf all diesen Listen steht, sind ihre Tage noch voller als ohnehin. Zehn Stunden täglich schreibt sie, daneben bereitet sie ihre Lehrstunden für Sprachkunst an der Angewandten vor, wo sie auch studiert hat. Im Flugzeug hat sie jüngst zwei Essays verfasst, aktuell arbeitet sie an einem über Hölderlin. Es geht darin um das Verhältnis des Autors zu seiner Zeit, das den Dichter beschäftigte und auch sie interessiert – daher Das flüssige Land.

"Im Grunde war das ja nichts Besonderes in Österreich – dass diese Verbrechen im Nationalsozialismus sorgsam überdeckt worden waren und dann eben doch herauskamen", lautet ein Schlüsselsatz der 350 Seiten. Vorbilder für die Verdrängungskultur fand Edelbauer in ihrem Heimatort Hinterbrühl und in Attnang-Puchheim.

"Dort gab es einen besonderen Wiederaufbaumythos. Man hat die KZ-Häftlinge geholt, um die Schuttberge der zerbombten Stadt wegzuräumen, alles um eineinhalb Meter aufgeschüttet und die Häuser nach Fotos wieder draufgestellt. Dann hat man alle KZ-Häftlinge umgebracht." Wer glaubte, Edelbauer hätte allen Aberwitz im Buch erfunden, irrt.

Literatur für die Welt, nicht für Leipzig

Warum davon erzählen? Zum einen liege das Thema doch auf der Hand. Also zur weniger offensichtlichen Erklärung, die lautet: Edelbauer will Bücher schreiben, die Lesern in 100 Jahren etwas über unsere Zeit verraten. Das mache Weltliteratur aus, und solche will sie schreiben – "auch wenn manche das lächerlich finden. Meine Vorbilder haben nicht geschrieben, um den Preis der Leipziger Buchmesse zu gewinnen."

Zwei Jahre saß sie am Roman, hatte davor schon ein halbes Jahr recherchiert. Dass sie zwei Stunden an die Wand schaue, weil ihr gerade nichts einfällt, komme nicht vor, wehrt sie ab. "Ich habe nur eine Chance! Ich habe keinen Hintergrund, wo mir wer großartig was sponsern könnte. Ich kann's mir nicht leisten, ein halbes Jahr zu überlegen, was ich mache."

Kafkaesk und verwurstet

Der Erfolg jetzt kommt für Edelbauer nicht aus heiterem Himmel. Mit 15 Jahren begann sie, täglich zu schreiben, erst hatte sie nach fünf Stunden Kopfweh. Am wichtigsten ist ihr die originelle Sprache. Sie wurde mit Bernhard, Jelinek und Turrini sozialisiert, auch Schwab "imponiert" ihr. Passagen in Das flüssige Land muten kafkaesk an, andere delektieren sich an wurstfingrigen Wirtshausgästen.

Gerade sitzt Edelbauer an Dave. Sie hat das Buch vor fünf Jahren schon einmal geschrieben, da reichte das Handwerk aber noch nicht aus, einen so langen Text zu tragen. In ihrem Alter entwickle man sich so schnell weiter, dass "ich knapp davor bin, dass mir manche Passagen aus Das flüssige Land schon wieder peinlich sind". Welche, will sie nicht sagen. Den Jurys der Preise sind die Stellen aber offenbar nicht aufgefallen. (Michael Wurmitzer, 9.10.2019)