"Viele Wiener Juden haben eine tiefe Sehnsucht nach dem alten Wien. Eine Sehnsucht nach Berlin habe ich aber nicht. Tatsache ist, dass ich ein Gefühl der Wehmut habe, wenn ich in Berlin bin. Nämlich, dass diese Menschen, die jetzt dort sitzen und Kaffee trinken, wissen wo sie hingehören. Mir wurde das gestohlen. Das habe ich nicht mehr. So sehr ich New York liebe, und ich liebe mein Heim und bin sehr glücklich hier. Trotzdem fühle ich mich entwurzelt."

Marion hat sich viele Gedanken zum Begriff "Heimat" gemacht, ein für sie sehr emotionales und kompliziertes Thema. Auf einer ihrer Berlin-Reisen begrüßte sie ein nichtsahnender Grenzbeamter mit den Worten "Oh, sie kommen in die alte Heimat zurück", als er in ihrem amerikanischen Pass den Geburtsort Berlin sah. Diese Worte lösten in Marion damals Ärger und Entrüstung aus und sie spricht nach wie vor über dieses Erlebnis. Sie starrte den ahnungslosen Beamten wortlos, wie vom Blitz getroffen, an. Denn ihre Heimat war ihr ja von Hitler gestohlen worden. 

Marion in ihrer Wohnung in NYC.
Foto: Stella Schuhmacher

Ein neues Leben

Marion, 1923 in Berlin geboren, wurde im Mai 1939 mit einem Kindertransport zunächst nach England geschickt und emigrierte nach dem Krieg nach New York. Sie ist Mitglied eines seit 1943 in New York stattfindenden Stammtisches, bei dem sich deutschsprachige Holocaust-Überlebende, ihre Freunde und Familienangehörige wöchentlich in Manhattan treffen. Sie spricht völlig akzentfreies und fließendes Deutsch und der Stammtisch ist ein wesentlicher Fixpunkt ihrer Woche. Am liebsten sind ihr die Stammtischabende, an denen über wichtige Themen diskutiert wird, über Politik und Kultur. An "Kaffeeklatsch" ist sie nicht interessiert.

Die 96-jährige hat sich in New York ein schönes Leben aufgebaut, war mit einem Wiener verheiratet und hat eine Tochter. Sie lebt mit ihrer Katze Puccini in einer hellen, mit Büchern, Pflanzen und afrikanischen Statuen und Masken dekorierten Wohnung. In den zahlreichen Bücherregalen in ihrem Wohnzimmer befinden sich unter anderem die Lieblingsbücher ihrer Kindheit, darunter einige Bände von Erich Kästner und Else Urys "Nesthäkchen". Außerdem war sie in ihrer Jugend großer Fan der Bücher von Karl May. Jetzt liest sie am liebsten Literatur, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt.

Beruflich war Marion bis vor kurzem sehr aktiv. Vierzig Jahre lang hat sie Holocaust-Überlebenden geholfen, ihren Anspruch auf Wiedergutmachungszahlungen und Sozialversicherung durchzusetzen. "Es ist mir eine große Genugtuung, dass ich so vielen Leuten ein leichtes Alter verschafft habe. Der Zuschuss hat vielen sehr geholfen."

Kinderbücher in Marions Regalen.
Foto: Stella Schuhmacher

Berliner Erinnerungen

Marion kam 1933 von der Grundschule in ein öffentliches Gymnasium, in dem zu dem Zeitpunkt jüdische Kinder kaum mehr geduldet wurden. Lehrer mussten mit "Heil Hitler" begrüßt werden und in der Aula wurde das Horst-Wessel-Lied, die Hymne der NSDAP, gesungen. Bis heute versteht sie nicht, warum ihre Eltern sie überhaupt in diese Schule schickten. Marions einzige christliche Schulfreundin brach eines Tages plötzlich jeden Kontakt zu ihr ab und vor dem öffentlichen Schwimmbad verwehrte das Schild "Juden unerwünscht" den jüdischen Schülerinnen und Schülern den Zutritt. 

Fräulein Marzian, Marions Klassenlehrerin, bildete die große Ausnahme in dieser schwierigen Zeit und weigerte sich, die Kinder wegen ihrer Religionszugehörigkeit unterschiedlich zu behandeln. Sie wurde allerdings bald entlassen, da sie eine abfällige Bemerkung über das Hitlerregime gemacht hatte.

Eines Tages wurden Marion und ihre jüdischen Schulfreundinnen von Fräulein Marzian für den folgenden Sonntag in ihr Haus in einen Vorort Berlins eingeladen: "Wir sollten den anderen aber nichts davon sagen. Wir haben einen Blumentopf gekauft und sind hinausgezogen. Und sie hat uns einen so schönen Tag bereitet. Sie hat uns bewirtet, wir sind im Wald spazieren gegangen, wir haben Geschichten erzählt und gelesen und gespielt. Und es war ein wunderbarer Tag. Wir waren damals vielleicht elf Jahre alt. Wir haben gespürt, dass sie zeigen wollte, dass nicht alle Menschen gleich, nicht alle Deutschen gleich waren. Ich werde diese Lehrerin nie vergessen!"

Beim 100-jährigen Jubiläum der Schule, zu dem sie als Ehrengast eingeladen wurde, erzählte Marion den Schülern die Geschichte von Fräulein Marzian und schrieb ihre Erinnerungen an sie in das Jubiläumsbuch. "Also sie ist verewigt, das hat mich gefreut."

Marions Schulklasse mit Fräulein Marzian.
Foto: Stella Schuhmacher

Sorgen um den Großvater

Marion wurde schlussendlich in eine zweisprachige jüdische Privatschule geschickt, die sie auf die Auswanderung vorbereiten sollte. Dort hatten die Kinder auch englische Lehrer und lernten viele Fächer auf Englisch. Dann kam die Pogromnacht im November 1938 und "dann war alles vorbei". Marions Onkel wurde verhaftet und war wochenlang im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert. Ein Großteil der Familie emigrierte so schnell wie möglich nach England, nur Marions Eltern blieben zurück, um sich um den 80-jährigen Großvater zu kümmern, den sie nicht zurücklassen wollten. Sie zögerten zu lange und irgendwann "war es zu spät". Marions Eltern wurden ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Kurz zuvor schickten sie Marion mit einem Kindertransport nach England.

Kindertransport

Die Zustände am Abreisebahnhof in Berlin waren katastrophal: "Mir steigen heute noch die Tränen in die Augen, wenn ich daran denke. Ich spreche auch gar nicht gern darüber. Die Kinder haben geweint, die Eltern haben geweint. Es war furchtbar. Die kleinen Kinder haben überhaupt nicht verstanden, was mit ihnen passiert. Man konnte ihnen doch gar nichts erklären. Ich war schon 16 Jahre alt und war nicht gar so traurig, denn ich habe verstanden, dass meine Eltern dann alles dransetzen würden, um rauszukommen." Im Zug traf Marion ein Mädchen, mit dem sie ins Gymnasium gegangen war. "Wir sind manchmal gemeinsam nach Hause gegangen. Ich war froh, eine Reisegefährtin gefunden zu haben."

Die Erleichterung der Kinder war groß, als sie endlich in Holland eintrafen und dort von Helfern am Bahnhof mit heißer Schokolade, Kuchen und Obst begrüßt wurden. "Das war ein schöner Empfang." In London wurden die meisten Kinder von ihren Gastfamilien abgeholt. Nur Marion und ihre Schulfreundin blieben übrig. Nach einem schwierigen Anfang, einer Keuchhustenerkrankung und einem Aufenthalt bei einer Familie, von der sie als billige Arbeitskraft ausgenutzt wurde, landete Marion schlussendlich bei einem Onkel und wurde von da an liebevollst umsorgt. "Keines der anderen Kindertransportkinder hatte es so gut wie ich. Außer den Bomben und den Sorgen um meine Eltern habe ich ein normales Leben geführt, was man von den anderen Kindern nicht sagen kann. Ich kenne viele Geschichten, die die Kinder erzählt haben, in denen sie missbraucht und ausgenutzt wurden."

Ein Wunder

Nach Kriegsende erhielt Marion eine Postkarte von ihren Eltern, die wie durch ein Wunder die Gefangenschaft im Konzentrationslager Theresienstadt überlebt hatten. Sie waren nach dem Krieg in einem Flüchtlingslager in Deggendorf bei München untergebracht und Marion wollte so schnell wie möglich dorthin, um ihre Eltern nach sechs Jahren der Trennung wiederzusehen. Da sie als Zivilperson nicht auf den Kontinent zurück durfte, meldete sie sich kurzentschlossen bei der amerikanischen Armee, die deutschsprachige Zensoren benötigte. Man gab Marion eine Uniform und sie wurde in München stationiert. So konnte sie ihre Eltern regelmäßig besuchen, bis die Familie schlussendlich gemeinsam nach New York emigrierte.

Postkarte von Marions Eltern. So erfährt sie, dass ihre Eltern den Krieg überlebt hatten.
Foto: Stella Schuhmacher
Das Wiedersehen. Marion und ihre Eltern.
Foto: Stella Schuhmacher

Ein zweites Wunder in einer kleinen Welt

Marion schrieb vor einiger Zeit über ihre ehemalige Lehrerin Fräulein Marzian einen Beitrag für eine Zeitung für emigrierte Berliner und verwendete dafür auch ein Klassenbild. Sie erhielt daraufhin von ehemaligen Schülern Briefe aus der ganzen Welt und eines Tages läutete Marions Telefon. Die Anruferin aus Toronto sagte, dass sie die Lehrerin auch gekannt hätte. Die Frauen plauderten angeregt miteinander, bis sich am Ende des Telefonates herausstellte, dass die Anruferin Marions Reisegefährtin vom Kindertransport war. Der Artikel über Fräulein Marzian hatte sie wieder zusammengeführt. Die Freude war riesengroß und die beiden waren von nun ab in ständigem Kontakt, telefonierten regelmäßig und setzten so ihre Freundschaft fort. 

Marion vor einem Plakat mit ihrem Foto.
Foto: Stella Schuhmacher

Häufige Berlinbesuche

Seit Anfang der 90er-Jahre reiste Marion aus beruflichen Gründen jedes Jahr nach Deutschland und hat im Laufe der Jahre dort viele Freundschaften geschlossen: "Ich hätte nie geglaubt, dass ich mit Deutschen wieder befreundet sein könnte." Sie war Ehrengast in ihrer alten Schule und wurde auch von der Politikerin Ulla Schmidt zu einem Besuch im Bundestag eingeladen. Und anlässlich des Themenjahres 2013 "Zerstörte Vielfalt" schmückte eine Litfaßsäule mit dem Foto einer lächelnden Marion einen Platz in Berlin. (Stella Schuhmacher, 25.10.2019)

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