So ganz hat selbst sie noch nicht begriffen, was da gerade passiert. "Sicher stresst das", japst Julia Herr und saugt am Strohhalm ihres Soda-Himbeere. "Extrem."

Julia Herr, Chefin der Sozialistischen Jugend, wird im Oktober in den Nationalrat einziehen. Zuletzt war sie sogar als Bundesgeschäftsführerin der SPÖ im Gespräch.
Foto: Matthias Cremer

Gerade noch galt die Chefin der Sozialistischen Jugend als Parteirebellin und "jo eh" wichtig für die SPÖ, aber eben doch zu jung und zu radikal – und ganz ernst wollte man sie auch nicht nehmen. Dann kam die historische rote Wahlschlappe. Es folgten kollektive Verzweiflung und der bittere Ruf nach Erneuerung. Und plötzlich sind sich alle heimischen Sozialdemokraten einig: Herr muss mehr mitreden. Schließlich ist die Jugend die Zukunft der Partei.

"Niemand gemeldet"

"Jo eh", sagt dazu Herr. Aber Floskeln reichen nicht mehr, das weiß sie. Und ihr glaubt man, dass sie das ändern möchte. "Es schreiben mir gerade so viele Menschen, dass sich in der SPÖ jetzt endlich was tun muss. Denen bin ich was schuldig."

Herr, türkise Strickjacke, unpräziser Seitenscheitel, Brille, ist 26 Jahre alt. Wenn sie spricht, tut sie das mit einer gewissen Entschlossenheit – egal, ob es um ihre unbeschwerte Jugend im burgenländischen Sigleß oder die Überwindung des Kapitalismus geht. Vor fünf Jahren übernahm sie als erste Frau die rote Jugendorganisation, kurz SJ genannt. Am 23. Oktober wird sie in den Nationalrat einziehen. Das Datum der konstituierenden Sitzung kennt sie, weil sie es gestern gegoogelt hat. "Bei mir hat sich noch niemand gemeldet."

Eine neue Aufgabe ist genug

Dabei wurde Herr in den vergangenen Tagen als alles Mögliche bis hin zur SPÖ-Bundesgeschäftsführerin gehandelt. "Alles falsche Gerüchte", versichert die Jungsozialistin. Sie wolle auch gar nicht mehr als ein einfaches Nationalratsmandat. "Wenn man das ernst nimmt, ist das Aufgabe genug." Ob sie als Abgeordnete immer brav mit ihrem Klub mitstimmen wird, hält sie sich offen: "Klubzwang nur von unten nach oben" sei ihre Devise. "Ich fühle mich dem Parteiprogramm, meinem Wahlkreis und der SJ verpflichtet, nicht den Parteifunktionären."

Die 26-Jährige fordert Teilverstaatlichung und will den Wohnsektor "nicht dem privaten Markt überlassen".
Foto: Matthias Cremer

Ist diese Frau also die Zukunft der SPÖ? In der Partei gibt es zwei Lager: jene, die Herr als Jugendvertreterin eine Rolle im Reformprozess zuteilen wollen, aber mehr dann auch bitte nicht. Und jene, die in der Soziologiestudentin ohne Abschluss das größte politische Talent der Sozialdemokratie seit Jahren sehen.

Was Herr jedenfalls hat, ist eine unmissverständliche Haltung. Die Jungpolitikerin kann über Wirtschaftspolitik diskutieren. Sie fordert die Teilverstaatlichung wichtiger öffentlicher Bereiche. Auch den Wohnsektor dürfe man "nicht dem privaten Markt überlassen". Im Kampf gegen den Klimawandel ist ihr die Bundespartei zu lax. Und überhaupt: "Kinder in Österreich bekommen schon lange nicht mehr die beste Bildung."

Partei aller Arbeitenden

Aktuell fehle der SPÖ aber vor allem die "Rahmenerzählung", findet Herr. Dabei sei das aus ihrer Sicht gar nicht so schwierig: "Wir sind die Partei für alle arbeitenden Menschen. Die SPÖ steht für gute Arbeitsplätze und faire Löhne, damit der Wohlstand gerecht verteilt wird." Nachsatz: "Das müssen wir dann halt auch bedingungslos umsetzen, wenn wir in einer Regierung sitzen."

Genau deshalb spricht sich Herr auch gegen Türkis-Rot aus: "Einer Regierung, die den Zwölfstundentag nicht zurücknimmt, die keine Millionärssteuern einführt und die Bekämpfung des Klimawandels verschiebt, werde ich nicht zustimmen", sagt sie. Das Wahlergebnis – 21,2 Prozent – sei außerdem ein "eindeutiger Auftrag der Wähler, in die Opposition zu gehen". In einer Koalition mit Sebastian Kurz könne die SPÖ nur verlieren. "Das würde unsere letzte Glaubwürdigkeit killen."

Eine kleine Lüge

Apropos Glaubwürdigkeit: Eine kleine Lüge hing Herr lange nach. Als sie gerade zur SJ-Chefin gewählt wurde, rief ein Journalist an und fragte, was sie denn gerne lese. "Science-Fiction" war ihre Antwort, aber konkret fiel ihr auf die Schnelle nichts ein. Krieg der Welten flüsterte ihr Sprecher. Das sagte sie dann auch. "Herr mag Marx, Johanna Dohnal und Krieg der Welten" war am nächsten Tag die Titelgeschichte. "Ich habe dieses Buch bis heute nicht gelesen." In Porträts wurde der Roman dennoch immer wieder als ihr Lieblingsbuch erwähnt. "Zu Dohnal und Marx stehe ich aber."

Julia Herr findet: "Wenn das Feuer nicht mehr brennt, sollte man gehen."
Foto: Matthias Cremer

Vielen ist Herr zu links, zu prononciert, um in der SPÖ eine ernsthafte Rolle zu spielen. Bis heute wird ihr vorgeworfen, dass sie 2014 das sozialistische, aber autokratische Venezuela als Vorbild bezeichnete. Sie war damals 21 Jahre alt und hatte sich auf eine WHO-Studie bezogen, der zufolge dort gerade die Armut halbiert wurde, argumentiert Herr heute.

Herzen und Hirne

Wie die SPÖ in zwei Jahren aussieht, wenn es nach ihr gehe? "Wir sind eine starke Oppositionspartei, und das sozialdemokratische Narrativ hat die Herzen und Hirne des Landes erreicht." Ob Herr ihr restliches Leben in der Politik verbringen möchte? "Ich weiß nicht, ob ich die Energie dafür habe", sagt sie. "Wenn das Feuer nicht mehr brennt, sollte man gehen." (Katharina Mittelstaedt, 9.10.2019)