Zweitstärkste Kraft wurde die Partei um den umstrittenen Präsidentschaftskandidaten und Medienmogul Nabil Karoui – der im Gefängnis sitzt.

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Nach der Parlamentswahl vom Sonntag stehen Tunesien langwierige und zähe Koalitionsverhandlungen bevor, denn die neue Abgeordnetenkammer ist extrem fragmentiert. Die für die Wahl einer neuen Regierung notwendige Mehrheitsfindung im 217 Sitze zählenden Parlament in Tunis dürfte Wochen dauern.

Zwar verkündete die tunesische Wahlbehörde ISIE erst zur Wochenmitte vorläufige amtliche Endergebnisse, doch die bereits bekannten Teilresultate zeigen eines sehr deutlich: Tunesiens Wählerschaft verpasste den in der vergangenen Legislaturperiode tonangebenden Parteien einen gehörigen Denkzettel.

Formelle Wahlsiegerin des Urnengangs ist die gemäßigt islamistische Ennahda-Partei, die auf 17 bis 19 Prozent der Stimmen kommt und mit 40 Mandaten rechnen kann. Im Vergleich zur Wahl 2014, bei der sie noch 69 Sitze gewann, brach sie jedoch massiv ein.

Die erstmals bei einer Parlamentswahl angetretene wirtschaftsliberale und populistische Partei Qalb Tounes (Im Herzen Tunesiens) des umstrittenen Präsidentschaftskandidaten und Medienmoguls Nabil Karoui, der seit August aufgrund einer Anklage wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche in Haft saß, zog mit 14 bis 16 Prozent als zweitstärkste Kraft ins Parlament und dürfte 33 Mandate bekommen.

Karoui wieder freigelassen

Karoui ist seit Mittwochabend wieder auf freiem Fuß. Ein Gericht ordnete seine Freilassung an, wie es aus Kreisen seines Wahlkampfteams hieß. Noch am Abend verließ Karoui das Gefängnis.

Die sozialdemokratisch-linksliberale Demokratische Strömung (Attayar) von Mohamed Abbou, die von Exkadern des 2011 gestürzten Ben-Ali-Regimes gegründete antiislamistische Freie Destour-Partei (PDL), die arabischen Nationalisten der sozialistischen Volksbewegung, die Koalition der Würde unter dem streitbaren Anwalt Seifeddine Makhlouf und die wirtschaftsliberale Partei Tahya Tounes (Lang lebe Tunesien) von Premierminister Youssef Chahed kommen allesamt auf fünf bis sieben Prozent der Stimmen und stellen Fraktionen, die zwischen zwölf und zwanzig Abgeordnete umfassen dürften.

Unabhängige Listen kommen auf rund zwölf Prozent der Sitze und blieben damit deutlich hinter den im Vorfeld der Wahl gemachten Prognosen zurück. Angesichts inhaltlicher und ideologischer Differenzen zwischen den erwähnten größeren Fraktionen dürfte die Regierungsbildung rechnerisch kompliziert werden.

Schmerzhafte Kompromisse

Sollten es die ins Parlament eingezogenen Parteien und Abgeordneten tatsächlich schaffen, eine Koalition auf die Beine zu stellen und eine neue Regierung einzusetzen, müssten sich die beteiligten Akteure auf schmerzhafte Kompromisse einlassen. Während sich einige Parteien bereits gegenseitig umwerben, schlugen andere die Bildung einer Technokratenregierung vor oder brachten sogar Neuwahlen ins Spiel.

Makhloufs Koalition der Würde und Attayar haben sich bereits für eine von Ennahda geführte Koalition ausgesprochen, stellen aber Forderungen. Auch Tahya Tounes, die zuletzt gemeinsam mit Ennahda regiert hat, könnte sich anschließen.

Vier-Parteien-Allianz

Doch selbst eine solche Vier-Parteien-Allianz käme nicht auf die für eine Parlamentsmehrheit notwendigen 109 Sitze. Volksbewegung und PDL wollen unter keinen Umständen eine Regierung stützen, an der Ennahda beteiligt ist. Viele Optionen bleiben den größeren Fraktionen demnach nicht.

Die Wahlbeteiligung lag offiziellen Angaben zufolge bei nur 41,3 Prozent, brach damit aber weniger heftig ein als im Vorfeld des Urnengangs befürchtet wurde. (Sofian Philip Naceur aus Tunis, 10.10.2019)