Halle – Nach dem gescheiterten Anschlag auf eine Synagoge in der deutschen Großstadt Halle an der Saale und der Tötung von zwei Menschen durch einen schwerbewaffneten Täter will der deutsche Innenminister Horst Seehofer am Donnerstagnachmittag über den Ermittlungsstand informieren. Unterdessen dringen laufend Details zum Tathergang an die Öffentlichkeit. Am Donnerstag durchsuchten Ermittler die Wohnung des Tatverdächtigen, dort soll weiteres Beweismaterial festgestellt worden sein.
Nach der Tat tauchte ein Dokument im Internet auf, bei dem es sich laut einer Expertin um eine Erklärung des Angreifers zu handeln scheint. Das PDF zeige Bilder von Waffen und enthalte einen Verweis auf das Livevideo, das von der Tat verbreitet worden sei, schrieb Rita Katz, Leiterin der auf die Beobachtung von Extremisten spezialisierten Site Intelligence Group, auf Twitter.
In dem Text wird laut Katz das Ziel genannt, "so viele Anti-Weiße zu töten wie möglich, vorzugsweise Juden". Das Dokument sei anscheinend am 1. Oktober angelegt worden und gebe Hinweise darauf, wie viel Planung und Vorbereitung der Täter in den Angriff gesteckt hat. Laut einem Bericht des "Spiegel" halten die Ermittler das Manifest mittlerweile für authentisch. Die darin abgebildeten und vom Täter offenbar teils selbst gebauten Schusswaffen würden mit den tatsächlich beim Anschlag eingesetzten Waffen übereinstimmen.
Kritik an Polizei
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, erhob noch am Mittwoch schwere Vorwürfe gegen die Polizei. "Dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös", sagte Schuster. "Diese Fahrlässigkeit hat sich jetzt bitter gerächt."
Auch Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle, kritisierte die Polizei in einem Video auf Twitter. Der mehrfach angeforderte Polizeischutz für die Synagoge sei bisher immer ausgeschlagen worden. Wie die Polizei seinen Notruf behandelt habe, beweise, dass es "keine Sicherheit gibt".
Der Vorsitzende der deutschen Gewerkschaft der Polizei, Oliver Malchow, wies diese Kritik in einem ZDF-Interview am Donnerstag zurück. Neben der Terrorbekämpfung könne sich die Polizei nicht auch noch um Rechtsextremismus kümmern, sagte er. "Wir können nicht alles vorhersehen", so Malchow.
Weitere Details
Der mutmaßliche Rechtsextremist Stephan B. aus Sachsen-Anhalt wurde am Mittwochnachmittag festgenommen. Er hatte nach Angaben aus Sicherheitskreisen gegen Mittag versucht, die Synagoge mit Waffengewalt zu stürmen. Mehr als 50 Menschen hielten sich zu dem Zeitpunkt dort auf und feierten das wichtigste jüdische Fest, Jom Kippur. Als der Anschlagsversuch scheiterte, soll der 27-jährige Deutsche vor der Synagoge und danach in einem nahen Döner-Imbiss zwei Menschen erschossen und mindestens zwei weitere verletzt haben. B. soll die Tat gefilmt und per Helmkamera live ins Internet übertragen haben, bevor er vom Tatort floh.
Defekte Waffe
Eine noch höhere Opferzahl wurde möglicherweise von Defekten an mindestens einer Waffe des Täters verhindert. In dem angeblichen Tatvideo ist zu sehen, wie in mindestens zwei Fällen Ladehemmungen das Leben von Menschen zu retten scheinen. Der Täter setzte eine vermutlich im Selbstbau hergestellte Langwaffe, eine Pistole und Sprengsätze ein.
Videospielästhetik
Nach Einschätzung des Extremismusforschers Matthias Quent wollte der Täter offenkundig eine international verbreitete rechte Internetsubkultur erreichen. "Er spricht Englisch, und er greift Verschwörungstheorien auf, zum Beispiel über die angeblich zerstörerische Macht des Judentums. Er äußert sich auch abwertend über Feminismus", sagte Quent. Das seien Motive der weltweiten populistischen und radikalen Rechten. "Das Video folgt der Ästhetik eines Videospiels, auch durch die Egoshooter-Perspektive", sagte Quent.
Innenminister Seehofer hatte schon am Mittwochabend gesagt, der Generalbundesanwalt, der die Ermittlungen rasch an sich gezogen hatte, habe "ausreichend Anhaltspunkte für einen möglichen rechtsextremistischen Hintergrund". Seehofer sprach von einem antisemitischen Motiv.
Beileidsbekundungen
Kanzlerin Angela Merkel übermittelte den Angehörigen der Opfer ihr Beileid. Die Solidarität gelte allen Jüdinnen und Juden am Feiertag Jom Kippur, schrieb Regierungssprecher Steffen Seibert auf Twitter. Am Abend nahm Merkel an einer Solidaritätsveranstaltung an der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin teil. Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will am Donnerstag die Synagoge in Halle besuchen.
Auch in anderen deutschen Städten versammelten sich Menschen am Mittwochabend in der Nähe von Synagogen und gedachten der Toten. In Halle legten Menschen am Marktplatz Blumen und Kerzen nieder. (APA, 10.10.2019)