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An der Tür der Synagoge sind die Beschädigungen zu sehen. Viele Menschen legten am Donnerstag Blumen nieder und zündeten Kerzen an.

Foto: REUTERS/Fabrizio Bensch

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Erleichterung in der jüdischen Gemeinde nach der Evakuierung.

Foto: AP Photo Jens Meyer

Eigentlich trägt Igor Matviyets keine Kippa. Doch heute, bevor er sich auf den Weg zu seiner Synagoge in Halle machte, entschied er anders. "Gerade jetzt muss jüdisches Leben sichtbar sein, wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen", sagt er vor jener Tür, deren Stärke am Mittwoch einen Anschlag im Inneren des Gebetshauses verhindert hat.

Öfter sei ihm schon mulmig gewesen, meint er. Denn: "Man weiß ja, was alles passieren kann. Aber dass dann so etwas Schreckliches geschieht ..." Der junge Mann schweigt kurz. "Ich wünsche mir, dass die Menschen jetzt zusammenrücken, aber ich bin pessimistisch", fügt er noch hinzu.

Doch an diesem Tag kommen viele Menschen zur Synagoge in der Humboldtstraße, legen Blumen nieder und zünden Kerzen an. Aus dem Fenster eines Wohnhauses hängt ein Stück Stoff mit der Aufschrift "Humboldtstr. gegen Antisemitismus und Hass".

"Juden in Halle! Wir stehen an eurer Seite, Ihr seid nicht allein", heißt es auf einem weißen Blatt Papier, das an der Mauer lehnt. Unweit davon war am Mittwoch, an Jom Kippur – dem höchsten jüdischen Feiertag – eine Frau erschossen worden, später noch ein junger Mann nicht weit entfernt in einem Döner-Imbiss.

Schon gehört?

Vier Kilo Sprengstoff

Nach Erkenntnissen der Polizei hätte es ein Massaker geben können: Der tatverdächtige Stephan B., ein 27-jähriger Deutscher, hatte mit mehrere Schusswaffen, und er hätte eigentlich in die Synagoge, in der sich am höchsten jüdischen Feiertag 80 Menschen aufhielten, eindringen wollen. Die Sicherheitstür aber hielt dem Angriff stand. Im Auto des Mannes fanden die Ermittler vier Kilo Sprengstoff.

"Was wir erlebt haben, war Terror", sagt Generalbundesanwalt Peter Frank. Stephan B. habe in der Synagoge ein Massaker anrichten wollen. Ihm wird nun zweifacher Mord und versuchter Mord in neun Fällen vorgeworfen.

Er sei "tief durchdrungen von Antisemitismus und Fremdenhass" – so beschreibt Frank den Tatverdächtigen. Sein Ziel sei gewesen, eine "weltweite Wirkung" durch das gestreamte Tatgeschehen und sein im Internet verbreitetes Manifest zu erzielen.

Andere zu Taten anstiften

Und, so Frank: "Stephan B. wollte ein Nachahmer im doppelten Sinne sein. Er wollte vergleichbare Taten nachahmen. Und er wollte auch andere zu solchen Taten zur Nachahmung anstiften." Nach derzeitigen Erkenntnissen ist B. nicht nachrichtendienstlich erfasst, es laufen auch keine Verfahren gegen ihn.

Am Donnerstag wurde er nach Karlsruhe zur Bundesanwaltschaft geflogen und der Haftbefehl gegen ihn beantragt.

Über das Geschehen spricht in Halle auch der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Max Privorozki: "Wir wussten nicht, ob wir lebend aus der Synagoge rauskommen." Er beklagt fehlenden Polizeischutz: "Bei uns gibt es nie Polizeikontrollen" – nicht einmal bei der Chanukka-Feier, dem Jüdischen Lichterfest mit mehreren hundert Menschen, obwohl er die Polizei bitte, "dass sie kommen". Doch anders als in München oder Berlin sei die Polizei in Halle vor der Synagoge nicht präsent.

Schwere Vorwürfe erhebt Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland: "Dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös."

Bei den meisten Synagogen sei es üblich, dass zu Gottesdienstzeiten ein Polizeiposten am Gebetshaus stehe. In Sachsen-Anhalt aber sei dies nach seiner Kenntnis nicht die Regel.

Mehr Polizeischutz

Der sachsen-anhaltinische Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) sagt nun aber mehr Polizeischutz für die Synagogen in Land zu. Da es keine Hinweise auf Gefährdung durch das Bundeskriminalamt gegeben habe, sei "unregelmäßige Bestreifung" durchgeführt wurden. Will heißen: Die Polizei schaut gelegentlich vorbei, aber es gibt keine dauernde Präsenz vor der Synagoge.

Sehr still wird es dort , als der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit seiner Frau, dem Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Rainer Haseloff (CDU), und einigen Bundestagsabgeordneten eintrifft.

Der Bundespräsident verbringt einige Zeit in der Synagoge und sagt danach: "Dieser Tag ist ein Tag der Scham und der Schande. Wer jetzt noch einen Funken Verständnis zeigt für Rechtsextremismus und Rassenhass, der macht sich mitschuldig." Er betont auch: "Wir müssen jüdisches Leben schützen."

Nicht vor Ort ist die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, aber sie betont beim Gewerkschaftstag der deutschen Metaller in Nürnberg: "Ich bin wie Millionen Menschen schockiert und bedrückt von dem Verbrechen."

Durch AfD ermutigt

Andere Politiker belassen es nicht bei derlei Worten, sondern sprechen klar aus, wen sie für das Klima in Deutschland verantwortlich machen. So sieht der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) "auch einige Vertreter der AfD" in der Verantwortung, diese seien "geistige Brandstifter".

Der neue SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich meint ebenfalls: "Der Angreifer ist ein radikaler Rechtsterrorist, der sich auch wegen der Verharmlosung und Leugnung der Nazi-Terrorherrschaft durch AfD-Vertreter ermutigt fühlen konnte."

Die Replik der beiden AfD-Fraktionschefs Alice Weidel und Alexander Gauland lässt nicht lange auf sich warten. Sie werfen ihren Kritikern vor, die Tat von Halle zu instrumentalisieren.

Der 27-jährige Angreifer ist nach den Worten seines Vaters ein Eigenbrötler gewesen. "Er war weder mit sich selbst noch mit der Welt im Reinen, gab immer anderen die Schuld", sagte der Vater der "Bild"-Zeitung, die ihn auch mit den Worten zitiert: "Der Junge war nur online."

Forderung der Kommissarin

Nach dem Anschlag fordert die EU-Kommission in einem Schreiben von allen Mitgliedstaaten, dass Synagogen und andere jüdische Einrichtungen ausreichend geschützt werden. "Es gibt eine Reihe von Staaten, die Nachholbedarf haben." Derzeit müssten jüdische Gemeinden teilweise die Hälfte ihres Budgets für Sicherheitsmaßnahmen ausgeben, teilte EU-Antisemitismusbeauftragte Katharina von Schnurbein den Zeitungen der Funke Mediengruppe am Freitag mit. Die Staaten sollten den Schutz bezahlen.

Die EU-Mitglieder hätten sich schon im Dezember 2018 darauf verpflichtet, jüdische Einrichtungen zu schützen. Bis 2020 soll jeder EU-Staat eine Strategie gegen Antisemitismus haben. (Birgit Baumann aus Halle, red, 10.10.2019)