Mircea Cărtăresc: "Das Unbeschreibliche beschreiben, das ist auch einer meiner Ansprüche: Worte zu finden für etwas, das zu groß ist für den menschlichen Geist."
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STANDARD: Herr Cărtărescu, in "Solenoid" erzählen Sie auf fast tausend Seiten von einem Hauptschullehrer in Bukarest in den 1980er-Jahren. Er lebt mehr oder weniger im Verborgenen, sein inneres Leben vertraut er nur seinen Tagebüchern an. Seine Erlebnisse werden zunehmend fantastischer. Wie lange haben Sie an "Solenoid" geschrieben?

Mircea Cărtărescu: Ich hatte seit vielen Jahren ein Projekt im Kopf, das ich immer Meine Anomalien oder Meine Absonderlichkeiten nannte. Das sollte ein Essay über mein inneres Leben werden, also keine Fiktion, sondern eine Selbstanalyse. Ich wollte darin auch über eine Reihe bedeutsamer Träume schreiben, auch über Visionen, die ich hatte, und merkwürdige Vorfälle, auf die ich mir einen Reim machen wollte. Die ersten ungefähr 200 Seiten von Solenoid verdanken sich noch diesem früheren Projekt. Schritt für Schritt bemerkte ich aber, dass darin ein ganzer Roman steckte. Ein großer Roman. Solenoid entstand zwischen 2011 und 2015 über vier Jahre hinweg.

STANDARD: Eines der zentralen Themen des Buches betrifft die Frage, was Literatur ist. Der Lehrer ist ein gescheiterter Schriftsteller, aber er schreibt Tagebücher, die wir uns als große Literatur vorstellen können. "Solenoid" ist mit diesen Tagebüchern zwar nicht deckungsgleich, tritt aber an deren Stelle.

Cărtărescu: Literatur ist mein wichtigster Gegenstand, meine wahre Leidenschaft. Wie viele andere Schriftsteller auch schreibe ich vor allem über Literatur. Ich versuche herausfinden, was das ist. Für mich war Literatur immer schon alles. Ich wurde in eine sehr arme Familie geboren, ohne kulturellen Horizont, ich hatte wirklich nur Literatur, um mir eine Bildung zu verschaffen. Eine ethische, ästhetische, sogar eine spirituelle Bildung. Ich verdanke der Literatur alles, was ich jetzt bin, und Lesen und Schreiben waren immer meine einzige Leidenschaft. Deswegen handeln meine Bücher im Grunde auch nur davon: von dem Wissen, das in der Literatur steckt. Ich schreibe nicht zur Unterhaltung. Literatur gehört in das menschliche Streben wie Mathematik oder Philosophie. Ich schreibe Literatur, damit ich verstehen kann, was mit mir geschieht und was mit der Welt rundherum geschieht.

SSTANDARD: Diese Erfahrung konnte man schon mit der "Orbitor"-Trilogie machen, die davor als Ihr bisheriges Hauptwerk galt: Bei Ihnen wird die Literatur zu einem Gefäß, das alle Formen der menschlichen Weltbeziehung in sich aufnimmt. Manchmal könnte man fast meinen, Sie seien auch Biochemiker und Mystiker.

Cărtărescu: Die meisten Schriftsteller lassen die anderen Disziplinen beiseite. Ein Buch sollte aber wie ein Staubsauger sein, es sollte aus allen Richtungen absorbieren. Solenoid, aber auch Orbitor sind solche Anziehungspunkte. Alles, was ich über die Welt weiß, geht darin ein.

STANDARD: In "Solenoid" liegt ein Schwerpunkt auf obskurem Wissen. Ein zentraler Aspekt findet sich in der erzählerischen Rolle, die Sie dem Voynich-Manuskript zuweisen. Das ist ein berühmter Text aus dem 15. oder 16. Jahrhundert, der bisher nicht entschlüsselt werden konnte.

Cărtărescu: Das Voynich-Manuskript ist eine meiner Passionen. Ich gehe zahlreichen solchen Fragen nach, manchmal zeigen sich Verbindungen zwischen diesen "Hobbys". Das ist der erzählerische Motor des Buches. Ein vergleichbares erzählerisches Denken findet man auch bei Schriftstellern, die ich sehr bewundere, ohne dass ich mich mit ihnen vergleichen wollte: Joyce oder Pynchon schaffen auch solche "Motoren".

STANDARD: Ein Fluchtpunkt in Ihren Totalromanen ist das, was früher die Domäne der Religionen war. Also Bereiche, in denen man mit dem Wissen oder jedenfalls mit den Wissenschaften nicht weiterkommt.

Cărtărescu: Rimbaud hat einmal gesagt, er wollte das Unbeschreibliche beschreiben. Das ist auch einer meiner Ansprüche: Worte zu finden für etwas, das zu groß ist für den menschlichen Geist. Wir fühlen da eher, als dass wir etwas verstehen. Ich möchte an eine Grenze kommen. Kafka sah sich als Wächter an den Grenzen des Denkens. Wittgenstein hat gesagt: Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen meiner Welt. Ich möchte mich in dieser dünnen Luft aufhalten.

Mircea Cărtărescu, "Solenoid". Übersetzt von Ernest Wichner. € 36,- / 912 Seiten. Zsolnay, 2019
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STANDARD: Sie sprechen von Visionen. Wie kann man sich das vorstellen? Haben Sie da tatsächlich Erscheinungen? Optisch? Akustisch? Etwas, das außer Ihnen niemand mitbekommt?

Cărtărescu: Vision und Stil sind identisch. Der Stil eines Schriftstellers ist seine Vision. Man kann ab und zu etwas sehen, das über die eigentliche Realität hinausgeht. Das Problem von Visionen ist auch das Problem der Realität. Gehört dazu auch unser nächtliches Leben? Halluzinationen? Fantasien? Unsichtbare Dinge, die wir aber fühlen? Wir bemerken, dass die Realität Lücken hat. Solche Dinge interessieren mich sehr. Der Spiegel der Wirklichkeit hat Sprünge.

STANDARD: Man weiß, dass Sie alles mit der Hand schreiben. Ihre Bücher sind zuerst einmal Manuskripte. In welchem Zustand sind Sie, wenn Sie schreiben? Einfach sehr konzentriert oder vielleicht sogar in einer Art Trance?

Cărtărescu: Der Akt des Schreibens macht mich so glücklich, dass das tatsächlich ein wenig so ist, als stünde ich unter Drogen. Das ist dann vielleicht nicht ganz meine normale Persönlichkeit, eine andere Persönlichkeit tritt hervor. Es stimmt, ich zerreiße nie eine Seite, ganz selten korrigiere ich ein Wort, alle meine Bücher sind der erste Entwurf. Ich habe auch nicht wirklich einen Plan, während des Schreibens weiß ich kaum, wo es mich hinbringen wird. Manchmal bin ich in der Mitte eines tausendseitigen Buches und weiß nicht einmal, was ich auf der nächsten Seite schreiben werde. Solenoid habe ich erst auf den letzten hundert Seiten verstanden, da war ich also schon bei 800 Seiten.

STANDARD: Im Grunde könnte man sagen: Sie versuchen sich als Individuum zum Medium des Universums zu machen.

Cărtărescu: Ich habe immer so geschrieben. C. G. Jung hat davon gesprochen, dass es Dinge gibt, die über den individuellen Geist hinausgehen. Aber ich will das nicht benennen. Das lässt sich nicht besser verstehen.

STANDARD: Träume sind ein wesentlicher Aspekt Ihres Schreibens und Ihres Weltverhältnisses. Sie schreiben sogar von Traumphasen, zum Beispiel im Alter von 16 bis 24 Jahren, das nennen Sie die Phase des "wesentlichen Traums". Was bedeutet das?

Cărtărescu: Seit ich begann, mich selbst wahrzunehmen, ist das nächtliche Leben für mich genauso wichtig wie das Leben am Tag. Mit 17 begann ich ein Tagebuch, in dem ich auch jeden Traum niedergeschrieben habe, viele Hundert, ganz unterschiedliche. Manche erschienen mir entscheidend. Es handelt sich um komplexe Halluzinationen, deutlich mehr als Träume. In der Antike hat man Träume kategorisiert: Manche kamen von Gott, manche von den Dämonen oder aus der Unterwelt, manche kamen aus dem Körperinneren. Manche sahen in die Zukunft. Ich hatte alle diese Formen von Träumen, manchmal in Serie. Das beschäftigte mich. Es war auch furchterregend. Ich verfolge obsessiv, was mit mir passiert.

STANDARD: Im Zusammenhang mit den Träumen steht in "Solenoid" eine weitere interessante Figur: Nicolae Vaschide.

Cărtărescu: Er war ein obskurer Wissenschafter. Man weiß sehr wenig über ihn. Vaschide lebte in Paris und war ein Anhänger von Freud und anderen Psychoanalytikern. Er schrieb auch eine Traumdeutung. Seine Biografie habe ich erfunden, weil ich eine Art Herrscher oder König der Träume brauchte. Ich habe auch noch andere, weitgehend unbekannte Wissenschafter in meinem Buch, wie Nicolae Minovici. Er hat sich sein ganzes Leben mit dem Tod durch Erhängen beschäftigt und sah sich als Weltmeister im kontrollierten Erhängen. Er hatte bei diesen Experimenten unglaubliche Halluzinationen, die er in seinen Büchern schilderte. Sie verweisen auf einen Zustand zwischen Leben und Tod.

STANDARD: Die "Orbitor"-Trilogie griff weit in die Geschichte aus und endete mehr oder weniger mit dem Kommunismus in Rumänien. Die erzählte Zeit in "Solenoid" führt auch wieder an dieses zentrale Datum 1989, als sich die ganze Welt radikal veränderte. Ist die jüngere Gegenwart für Sie nicht so interessant?

Cărtărescu: Ein ernsthafter Schriftsteller schreibt immer nur ein Buch. Man sagt oft zu mir, dass ich mich wiederhole. Das stimmt, und es stimmt auch wieder nicht. Jedes Mal versuche ich mit demselben Material, also mit meinem Leben, etwas anderes zu machen. Dieses Mal ging ich von einer Periode aus, die 1980 begann und 1989 endete. Die letzten zehn Jahren des rumänischen Kommunismus. Ich war damals selbst Lehrer in einer Schule am Rand von Bukarest in einem kleinen, sehr armen Dorf. Von dieser Erfahrung ging ich für die erste Ebene, für die realistische Ebene des Buches aus: Ich erzählte von diesem Lehrer und seinen Kollegen, und von den Kindern in dieser Schule. Das sollte ganz genau und glaubwürdig sein. Denn auch ein fantastischer Autor muss alles realistisch beschreiben. Nur so kann man ein fantastisches, vielleicht sogar ein metaphysisches Buch schreiben.

Bert Rebhandl, österreichischer Autor, lebt in Berlin. Gerade erschien von ihm "Der dritte Mann. Neuentdeckung eines Klassikers" (Czernin)
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STANDARD: Haben Sie auch einmal eine so gravierende Zurückweisung erlebt, wie sie dem jungen Lehrer im Buch widerfährt? Seine literarische Karriere wird mehr oder weniger vernichtet, bevor sie noch begonnen hat.

Cărtărescu: Diese Szene bei einer Dichterlesung ist wichtig, weil sich da mein Weg von dem der Figur trennt. Ich hatte auch einmal so einen Abend, bei mir war die Lesung aber sehr erfolgreich, man hat mich ermutigt, und so wurde ich ein Schriftsteller. Die Figur aber wird ein Verlierer. Er schreibt nur für sich selbst und macht keine Kompromisse. Solenoid ist die gemeinsame Schöpfung dieser Figur ohne Namen und von mir. Wir teilen die Urheberschaft.

STANDARD: Es zählt zu den Paradoxien der Totalromane, dass sie alle in einer konkreten Sprache verfasst werden müssen, also auch auf Übersetzung angewiesen sind. Welche Beziehung haben Sie zum Rumänischen?

Cărtărescu: Ich denke darüber kaum nach. Rumänisch ist für mich so selbstverständlich wie ein Fenster, durch das ich nach draußen schaue. Als ich noch Dichter war, war Sprache enorm wichtig, aber das ging dann in meiner Prosa auf. Jetzt geht es mir stärker um die Inhalte. Ich halte meine Bücher für universell, sie sind überall verständlich. Ich bin halt Rumäne, aber das ist reiner Zufall. Rumänisch eignet sich genauso gut für Literatur wie jede andere Sprache. Bei der Dichtkunst ist das anders.

STANDARD: Sie haben einmal ein Dichtkunstwerk geschaffen: "Levantul" ist bis heute nicht ins Deutsche übersetzt.

Cărtărescu: Levantul liegt mir sehr am Herzen. Das Schreiben war eine einzigartige Erfahrung. Ich war damals 30. Die Sprache ist genau genommen nicht Rumänisch, sondern eine Kunstsprache auf Grundlage des alten Rumänisch aus dem 18. und 19. Jahrhundert, also unserer nationalen Dichtkunst. Viele Rumänen würden diese Sprache auch nicht verstehen. Leider ist Levantul unübersetzbar. Vor einigen Jahren habe ich eine Version in moderner rumänischer Prosa geschrieben und an meine Übersetzer geschickt. Vier haben sie übersetzt, ins Schwedische, Spanische, Französische, Italienische. Aber es ist natürlich nicht dasselbe Buch. Die kulturellen Anspielungen fallen weg. Aber es bleibt der Inhalt.

STANDARD: Beim Lesen Ihrer Bücher könnte man sich einen Autor vorstellen, der vollkommen in seinem Schreiben aufgeht. Sie haben aber vermutlich auch ein alltägliches Leben. Und auch ein politisches Leben.

Cartarescu: Ich bin ein ganz normaler Mensch. Ein Familienmensch. Vom literarischen Leben halte ich mich eher fern. Wir gehen ins Kino oder machen lange Spaziergänge in den Wäldern um Bukarest. Und ich nehme natürlich am politischen Leben teil. Die Menschen vertrauen mir. Ich wollte immer ein wenig das rumänische Denken verändern, weg von diesen tribalistischen Einstellungen, hin zu den Werten der Menschenrechte. Ich tue mein Bestes, eine Rolle im Leben meines Landes zu spielen. Ich war immer ein sehr überzeugter Europäer, in erster Linie würde ich mich als humanistischen Intellektuellen bezeichnen. Ein liberaler, humanistischer Intellektueller.

STANDARD: Abschließend ein Wort über den Titel "Solenoid": Worauf bezieht er sich?

Cărtărescu: Ich habe mir überlegt: Was ist die am meisten dichterische Vorstellung? Was ist eine besonders wundersame Erfahrung? Nach einiger Meditation kam ich darauf: Es ist die Levitation. Das Schweben. Das ist unser Traum: über unsere Grenzen hinauszugehen, die Schwerkraft zu überwinden. Damals las ich im Internet über Menschen, die daran arbeiten, sehr schwere Gegenstände durch Levitation zu bewegen. In meinem Buch ist Levitation eine wundersame Kraft. Häuser, Menschen, Dinge schweben in der Luft, Bukarest selbst erhebt sich in die Lüfte, angetrieben von diesen Kraftquellen in seiner Unterwelt. Das ist der Solenoid. Der Titel ist immer das Schwerste. Ich weiß nie, was ich nehmen soll, manchmal habe ich 200 Optionen. Am Ende gewann dieses einzelne Wort. Ich hatte immer noch Zweifel, aber es funktioniert wohl nicht schlecht. (Bert Rebhandl, Album, 13.10.2019)