Der von Hunger angegriffene Denkapparat, gezeichnet vom Norweger Martin Ernstsen.
Foto: Avant-Verlag

In Knut Hamsuns Hunger durchkämmt ein junger Mann, hungerleidend, über Tage, Wochen, Monate, die Straßen Kristianias, heute Oslo. Ein paar Bogen Papier und ein Bleistift gehören zu seinem Besitztum, gelegentlich stellt er damit einen Artikel für eine Zeitung fertig und bekommt dafür ein paar Kronen. Eine regelmäßige Miete geht sich in dieser prekären Lage nicht aus. Darum landet der namenlose Protagonist gleich zu Beginn der Erzählung auf der Straße. Ein Vorfall, der sich noch einige Male wiederholen wird.

Die Eingeweide der Stadt, die der gebeutelte Antiheld auf der Suche nach einem Bissen Essen, einem Schlafplatz oder einem Ort, an dem er in Ruhe einen Texteinfall zu Papier bringen könnte, durchwühlt, erscheinen wie eine Spiegelung der krampfartig sich zusammenziehenden Gedärme des Hungernden und der schwindelerregenden Windungen seines Gehirns.

Indem der Autor jegliche Einbettung der Schilderungen des Ich-Erzählers in soziale Erklärungsmuster unterlässt, hebt er dessen existenzielle Prekarisierung umso radikaler in den Vordergrund. Dass der rund 230 Seiten starke Roman aus dem Jahr 1890 stammt, verwundert: Er könnte ebenso gut aus der Zukunft kommen.

Ästhetische Modernität

Dem Autor Hamsun (1859-1952) hatte er seinerzeit schlagartig zum literarischen Durchbruch verholfen. Schriftsteller wie Franz Kafka, Thomas Mann, Marcel Proust oder James Joyce bewunderten in Hunger Hamsuns moderne Schreibweise. Hamsuns "Sekundenstil", der die gesteigerte Wahrnehmung des ausgehungerten Protagonisten minutiös einfängt, und die als Bewusstseinsstrom charakterisierte Form des inneren Monologs, die Hamsuns Erzählung prägt, sind Elemente davon.

Dass der norwegische Nobelpreisträger von 1920 später als feuriger Unterstützer des deutschen Nationalsozialismus und dessen Marionettenregierung von Vidkun Quisling auftrat, hatte für viele Leser den Autor für lange Zeit als unlesbar disqualifiziert. Die ästhetische Modernität von Hamsuns Frühwerk steht heute allerdings außer Frage.

Der Zeichner Martin Ernstsen, ebenfalls Norweger, hat nun eine Comicinszenierung von Hamsuns Roman vorgelegt, in der er die Gedankenflüsse des Protagonisten mit vielfältigen visuellen Einfällen umsetzt. Nicht weiter namenlos, nennt Ernstsen seinen Helden Knud Pedersen, wie Hamsuns bürgerlicher Name lautete. Derartige Identifizierungen von Ich-Erzählern mit dem Autor sind nicht unbedenklich. Der Zeichner möchte damit offenbar darauf verweisen, dass Hamsun selbst mehrmals in extremer Armut lebte und an Hunger litt, bevor ihm sein Debüt den erhofften Erfolg brachte. Mit der Verknüpfung von Autor und Ich-Erzähler favorisiert Ernstsen zugleich die These, das Romanwerk selbst sei als Aufzeichnung des Scheiterns zugleich dessen paradoxe Überwindung.

Tatsächlich ist die Hauptfigur mehrfach in dieser schwingenden Ambivalenz gezeichnet. Zum einen ist sie unentwegt hin- und hergebeutelt zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifeln bis hin zu Selbstverachtung, weil sie ihre Schreibeinfälle und Textversuche als genial empfindet und sie im nächsten Moment als stümperhaft verwirft. Die Wechselbäder zwischen Überheblichkeit und Scham hindern den Ich-Erzähler daran, auf dem Boden zu bleiben, vor allem aber entpuppt sich die Scham als Falle und unüberwindbare Hürde, sich jene Hilfe zu holen, die ihn weiterbringen könnte.

Schrittweise Verwandlungen

Ernstsens Knud Pedersen, der sich wiederholt in verschiedene comicartige, surreale Alter Egos sowie in Imaginationen und Selbstzurichtungen des eigenen Ich verwandelt, ist in klaren Linien und mit realistischen Zügen gezeichnet. Das kann ein unbeschwertes, glückstrahlendes Maskottchen sein oder ein vor Zerknirschung sich windender Hund. In einem Anfall von Selbstekel und gnadenloser Selbstzerfleischung macht sich der Protagonist buchstäblich zur Schnecke.

Die schrittweisen Verwandlungen vor den Augen des Lesers, die an die Laufbilder der frühen Kinematografie erinnern, intensivieren den Akt und sind zugleich eine Rückübersetzung jenes Sekundenstils, den Hamsun einst dem Medium des Films entnommen hatte. Diese Darstellung von Bewegungsbildern, bei denen die Bilderrahmen oft über längere Strecken entfallen, zieht sich als kompositorischer Faden durch den Comic. Der Strom des Bewusstseins ist mit der "transzendentalen Obdachlosigkeit" (Georg Lukács) der real vagabundierenden Romanfigur verknüpft. In ihrem Elend hadert sie mit Gott, dessen riesiger Finger sie wie ein winziges Insekt zu zerquetschen droht.

Doch die Ambivalenz der Hauptfigur zeigt sich auch in ihrer Redegewandtheit: Mit Lügen- und Hirngespinsten versucht der Protagonist seine Lage zu verbergen, gerät aber nur immer tiefer hinein in einen Strudel von Abwärtswindungen. Die Erzählerqualitäten stehen im Widerspruch zu seinem katastrophalen Scheitern, kehren jedoch als geniale Aufzeichnung auf der Autorenebene wieder.

Brennende Gehirne

Die Genialität wurzelt – fatalerweise – in der Geschichte des Hungerkünstlers. "Die Sache ist die, dass meine Armut Fähigkeiten in mir begünstigt hat, die mir regelrecht Ärger einbringen. Aber das hat auch seine Vorteile, in manchen Situationen helfen sie mir." Den prosaisch rüpelhaften Wutanfällen des Hungerleiders, der die Selbstbeherrschung verliert, steht die gesteigerte Wachsamkeit des auf seine Essenz ausgewrungenen Körpers gegenüber, eine Empfindsamkeit, die haarscharf am Wahnsinn grenzt.

Brennende Gehirne gehören daher zum markantesten Äußersten dieser grafischen Inszenierung, wie das zentrale doppelseitige Bild des Gehirns des Protagonisten, das von Ameisen abgetragen wird. Den Zusammenhang des derart angegriffenen Denkapparates mit den ausgepressten Eingeweiden, deren Empfindlichkeit sich in Übelkeit und Schwindel ausdrückt, stellt der Zeichner in hellleuchtenden Farben dar, die aus dem vorwiegend schwarz-weißgrau gehaltenen Comic hervorstechen.

Man muss Ernstsens historisierende Rahmung der Geschichte, indem er zu Beginn in sepiabrauner Kolorierung eine biedermeierliche Atmosphäre als Kontrast zu Pedersens Innenleben evoziert, nicht unbedingt überzeugend finden. Seine grafische Umsetzung von Hamsuns Klassiker, der auch aktuelle Formen des Prekariats vorwegnimmt, steckt jedoch voller Überraschungen und überzeugender Visualisierungen mit genuinen Mitteln des Comics. (Martin Reiterer, Album, 12.10.2019)