Beginnen wir mit der Ausnahme: dem Zusammenstoß, bei dem Mick zum Ziel einer rassistischen Attacke wird. Die Kopfhörer im Ohr, macht er beim Joggen einen Stopp in einem Lottoladen, da wird er, schon wieder draußen, angerempelt und beschimpft. Zwei unvereinbare Welten, meint man, prallen aufeinander: der afrodeutsche Mann, der sich durch die Berliner Clubkultur der 1990er-Jahre treiben lässt, und Silvio, arbeitslos, frustriert, nicht mehr willens, "Karl Arsch" zu sein.

Jackie Thomae steht mit ihrem Roman über zwei ungleiche Brüder auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.
Foto: Urban Zintel

Die Situation eskaliert und wird im selben Moment zum Rohrkrepierer. Denn Silvio entpuppt sich als früherer Schulkamerad von Mick. Also kein "Naziüberfall", entscheidet der, sondern ein "Wiedersehen mit einem Bekannten aus Kindertagen".

Eine Ausnahme ist die Stelle aus dem Roman Brüder deshalb, weil das Determiniertwerden durch Hautfarbe, also Kategorien von "race", selten so nachdrücklich erzählt wird. Wie unverkrampft und ironisch Jackie Thomae mit oft eilfertig vergebenen Identitätszuschreibungen umgeht, zeigt schon die beiläufige Art, mit der diese Szene aufgelöst wird. Mick und Silvio teilen als Kinder der DDR eben auch Erfahrungswelten. Und wenn Micks Aussehen in einer weißen Mehrheitsgesellschaft doch eine Rolle spielt, geschieht das subtiler, unterschwelliger.

Mit Brüder hat es die 1972 in Leipzig geborene Thomae auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Die Autorin weiß, wovon sie schreibt: Sie wuchs selbst bei ihrer deutschen Mutter auf, den Vater, einen aus Guinea stammenden Arzt, hat sie erst spät, im Jahr 2014, kennengelernt. Die ambivalenten Positionen ihrer Figuren sind ihr so gut vertraut, dass sie diese nicht thesenhaft behandelt, sondern als Lebenswirklichkeiten durchdringen kann.

Allürenfreier Tonfall

Deshalb sollte man bei diesem Roman, der die Spielräume seiner Helden offenlässt, auch nichts nachträglich festzurren. Es geht um zwei Brüder, die nichts voneinander wissen – und damit auch darum, wie vielen Koinzidenzen so etwas wie Zugehörigkeit und Selbstbestimmung unterworfen ist. Mick ist einer der beiden Männer. Mit der zweiten Hauptfigur, Gabriel, teilt er denselben afrikanischstämmigen Vater: Idris, der Ende der 1960er-Jahre in Ostberlin studiert hat.

Thomae hat das Buch in zwei große Abschnitte geteilt, die auch in Stil und Form unterschiedlich gehalten sind. Der erste Teil erzählt Micks Geschichte im Zeitraum von Mitte der 1980er-Jahre bis kurz nach der Jahrtausendwende. Gabriels Leben setzt da an, allerdings wird es nicht länger in chronologischer Form ausgebreitet, sondern in kürzeren Rückblenden, die entweder aus seiner oder der Perspektive seiner Frau Fleur erzählt sind.

Jackie Thomae, "Brüder". € 23,- / 430 Seiten. Hanser-Verlag, Berlin 2019
Foto: Hanser-Verlag

Micks Leben verläuft rastlos und ungeplant, und Thomae ist in seinem Fall nahe dran an einem Lebensgefühl, das sich stark nach den Möglichkeiten der Gegenwart ausrichtet. Berlin nach der Wende ist auch für Mick eine Spielwiese, um sich auf den unterschiedlichsten Feldern zu erproben – längst nicht nur in der damals florierenden Clubkultur. In einer längeren Passage entwickelt sich Brüder gar zum Drogenkrimi. Gemeinsam mit dem angehimmelten Desmond und seiner Freundin Delia reist Mick nach Kolumbien, um Kokain zu schmuggeln. Das geht nicht für alle gut aus.

Auch in solchen Passagen verlässt Thomae ihr unbeschwerter, allürenfreier Tonfall nicht; zugleich nutzt sie diese aktionsbetonten Momente, um eine Art von direkter Zeugenschaft zu ermöglichen. Micks Profil erhält dabei immer plastischere Konturen: diese nonchalante Art, anderen entgegenzutreten und selbst undechiffrierbar zu bleiben.

Verflogene Jugend

Bei den Frauen hat er damit Erfolg, im Jobleben weniger. Sein Mangel, sich langfristig zu etwas zu bekennen, läuft unweigerlich auf den Punkt zu, dass er irgendwann den richtigen Moment verpasst. Wenn die Beziehung zu seiner langjährigen Freundin Delia daran zerbricht, entwickelt der Roman auch entsprechende Tiefe. Brüder, sagte Thomae in Interviews, sei für sie auch ein Buch der Verortung im Leben – wenn man plötzlich merkt, dass die Jugend definitiv verflogen ist.

Gabriel dagegen – als erfolgreicher Architekt, der bürgerlich gefestigt in London lebt, das Gegenteil von Mick – erlebt sein eigenes negatives Erweckungserlebnis, als er eines Tages wegen einer Hundebesitzerin ausrastet und eines rassistischen Übergriffs beschuldigt wird: "Und plötzlich war ich weiß. Ich." Mit diesem Satz setzt Gabriels Geschichte überhaupt an: die vermeintlich stabile, auf Fleiß und Prestige begründete Identität in einer, wie er geglaubt hat, postrassischen Gesellschaft? Nur eine weitere Konstruktion.

Auch in Gabriels Fall bleibt somit der individuelle Weg entscheidend – Klasse, Herkunft und Hautfarbe lassen sich nicht säuberlich aufdröseln, sondern bilden ein Gewirr. Thomae beschreibt in ihrem Buch vielschichtige Wirklichkeiten von Menschen, die Zuschreibungen misstrauen. Und zugleich macht sie ganz undogmatisch klar, warum sie diesen doch nicht entkommen können. (Dominik Kamalzadeh, Album, 12.10.2019)