Montagfrüh im Wiener Landesgericht für Strafsachen. Im zweiten Stock gehen zwei Frauen vor dem Verhandlungssaal auf und ab, drei weitere sitzen auf bereitgestellten Holzstühlen. Während eine im Minutentakt auf die Uhr blickt, blättert eine andere hastig in Unterlagen. "Zur Vorbereitung", sagt sie knapp und vertieft sich wieder in das Schreiben auf ihrem Schoß. Dass sie nicht plaudern will, ist offensichtlich.

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Wer eine österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, zwischen 25 und 65 Jahre alt ist und in Österreich lebt, kann zum Laienrichter einberufen werden.
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Auch sonst herrscht Schweigen, die Stimmung wirkt angespannt. Grund, nervös zu sein haben die Frauen eigentlich nicht. Denn anders als jener Mann, der in T-Shirt und Schlapfen in Begleitung eines Justizwachebeamten vor einem Verhandlungssaal steht, müssen sie kein Gerichtsurteil fürchten. Im Gegenteil: Sie sind Schöffinnen und werden in den nächsten Stunden über den Ausgang eines Verfahrens mitentscheiden. Eine dieser nervösen Frauen bin ich.

Für die Tätigkeit als Laienrichter mussten wir uns nicht qualifizieren, kein Jusstudium abschließen und uns auch nicht im Strafrecht fortbilden. Unser Rechtswissen stammt aus einem 80-seitigen Büchlein, das uns das Justizministerium gemeinsam mit der Ladung per eingeschriebenem Brief zugeschickt hat. Detaillierte Informationen enthielt das Schreiben nicht: ein Ort, ein Datum, der Name eines Richters.

Viel mehr erfahren Laienrichter, also Schöffen und Geschworene, nicht. Dabei ist eine solche Ladung alles andere als unüblich: Laut österreichischem Recht fällt der Berufsrichter in vielen Fällen mit mehr als fünf Jahren Strafandrohung das Urteil gemeinsam mit zwei Schöffen. Geschworene, die bei besonders schweren Fällen am Zug sind, müssen hingegen alleine über Schuld oder Unschuld entscheiden.

Ordnungsstrafe bei Nichterscheinen

Um Punkt neun Uhr geht die Tür des Verhandlungssaals auf. Die Frauen, die sich bisher nur verstohlen angeblickt haben, werden aufgerufen. Der kleine Raum hat mit dem prunkvollen Schwurgerichtssaal, in dem zwei Stockwerke tiefer der Buwog-Prozess verhandelt wird, wenig zu tun. Kein Stuck an der Decke, keine Säulen an der Wand – nur das notwendigste Mobiliar.

Eigentlich hätten am Montagmorgen sieben Personen zu dem Prozess kommen müssen, erschienen sind jedoch nur fünf. Zwar gibt es für Schöffen einige Befreiungsgründe, wer jedoch unentschuldigt von dem Gerichtstermin fernbleibt, muss mit einer Ordnungsstrafe von bis zu 1000 Euro rechnen. Diese wird durchaus verhängt, heißt es aus Justizkreisen.

Der Verhandlung werden allerdings nur zwei der Frauen folgen, eine davon bin ich. Die übrigen Laienrichter werden gebeten, zu einem anderen Termin wiederzukommen. Einer Wartenden passt das nicht: Sie habe extra berufliche Termine verschoben und will nicht zu einem anderen Zeitpunkt kommen. Eine andere grummelt, sie sei schon einmal nach Hause geschickt worden. Ich freue mich. Immerhin habe ich als Journalistin bereits oft über Gerichtsprozesse berichtet, aber noch nie aus dieser Perspektive.

Denn für diese Aufgabe kann man sich nicht freiwillig melden – und auch nur unter bestimmten Umständen entschuldigen. Wer eine österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, zwischen 25 und 65 Jahre alt ist und in Österreich lebt, kann einberufen werden. "Laienrichter zu sein, ist ein Ehrenamt und gehört zur allgemeinen Bürgerpflicht in Österreich", heißt es dazu auf einer Regierungswebseite, in der rechtliche Grundlagen für Bürger erklärt werden.

Ausgeloste Schöffen können binnen einer zweijährigen Frist zu fünf Verhandlungstagen pro Jahr verpflichtet werden. Das Gesetz besagt, dass sie ihre Tätigkeit nach Beginn einer Verhandlung bis zum Urteil fortsetzen müssen. Wer aber beispielsweise bereits einen Urlaub gebucht hat, kann sich zumindest für einen späteren Termin melden.

Mangelndes Rechtswissen

Ein paar Ausnahmen gibt es schon: Menschen, die einer Verhandlung aufgrund ihres geistigen oder körperlichen Zustands nicht folgen können, der Sprache nicht ausreichend mächtig sind oder selbst bestimmte gerichtliche Verurteilungen aufweisen, können keine Laienrichter werden. Gleiches gilt für Berufsgruppen wie Richter, Staatsanwälte, Geistliche oder Regierungsmitglieder. Ansonsten gilt das Zufallsprinzip: Wer sämtliche Kriterien erfüllt, wird per Los aus der Wählerevidenz ausgewählt. In den vergangenen fünf Jahren fanden bundesweit im Schnitt 3500 Schöffen- und knapp über 200 Geschworenenverfahren pro Jahr statt.

Zurück in die Landesgerichtsstraße 11. Dort sitze ich bereits mit der zweiten Frau und dem Berufsrichter in einem Besprechungsraum, vor uns liegt die Anklageschrift. Es geht um einen Betrugsfall, wir haben beide viele Fragen. Doch die Zeit ist knapp: In nur 30 Minuten erklärt uns der Richter den Fall und hält einen kleinen Exkurs zum österreichischen Strafrecht. Um einen tiefergehenden Einblick in die Causa zu bekommen, reicht die halbe Stunde definitiv nicht.

Kurze Vorbereitung

Die kurze Vorbereitungszeit und das mangelnde Rechtswissen macht die Aufgabe nicht nur für Schöffen schwierig, sie ist auch Juristen ein Dorn im Auge: Gerade bei komplexen Sachverhalten – etwa bei Wirtschaftsdelikten – sei es für Laienrichter oft schwierig, dem Verfahren zu folgen, sagt Robert Kert, Vorstand des Instituts für österreichisches und europäisches Wirtschaftsstrafrecht an der WU Wien.

Er schlägt vor, bei solchen Verfahren fachkundige Laienrichter einzusetzen. Zudem hätten Schöffen und Geschworene – aber auch Berufsrichter – nach dem Prozess keine Möglichkeit, über das Erlebte zu sprechen, kritisiert Kert. Das wäre gerade bei Sexual- oder Tötungsdelikten wichtig.

Im Allgemeinen hält der WU-Professor das System für sinnvoll: "Grundsätzlich tun Laienrichter der Rechtssprechung gut." Diese seien in manchen Aspekten unbefangener als Berufsrichter und würden die Meinung der breiteren Bevölkerung besser reflektieren. In der Realität käme es aber oft zu einer Schräglage: Zwar sollten Schöffen und Geschworene eigentlich die Gesellschaft eines Staats widerspiegeln, letztlich würden aber meistens Personen eingesetzt, "die eh Zeit haben", meint Kert.

Vor Gott geloben

Im "Landl", wie das Landesgericht Wien auch genannt wird, startet der Prozess. Meine Kollegin und ich sitzen verlegen vor dem Angeklagten und wissen nicht so recht, wo wir hinschauen sollen. Immerhin werden wir in den nächsten Stunden über die Zukunft des Angeklagten mitentscheiden, wissen aber nicht, was uns erwartet. Bevor die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift vorliest, müssen wir erst geloben. Entscheidungen dürfen nicht willkürlich, sondern so, wie wir es "vor Gott und unserem Gewissen" verantworten können, getroffen werden.

"Ich schwöre, so wahr mir Gott helfe", murmelt die Schöffin dem Richter nach. Ich gehöre keiner Religion an und versichere – über die Gelobungsformel irritiert – meine guten Absichten per Handschlag. Dass Schöffen auf Gott schwören müssen, stört nicht nur mich: "Es ist nicht mehr zeitgemäß", meint ein Richter, der namentlich nicht genannt werden will.

Im Zweifel für den Angeklagten

Er kritisiert, wie auch Uni-Professor Kert, dass viele Laienrichter aufgrund der kurzen Vorbereitungszeit überfordert seien. So geht es auch meiner Kollegin und mir. Wir hören schweigend die Plädoyers an. Der Verteidiger richtet sich in seiner emotionalen Rede durchwegs an uns. Er weiß wohl, dass er den Berufsrichter damit nicht beeindrucken kann. Ich schiele zu meiner Nachbarin, auch sie macht ab und zu Notizen. Nur zweimal stellen wir Fragen – das ist erlaubt.

Die ungewohnte Erfahrung dauert nicht lange. Nach einer kurzen Verhandlung zieht sich der Senat zur Besprechung zurück. Auch hier gilt natürlich: im Zweifel für den Angeklagten. Nach einer Besprechung und der Verlesung des Urteils ist mein Kurzeinblick in Österreichs Rechtswesen vorerst vorbei. Der Prozess endete nach nur zwei Stunden und 40 Minuten mit einem Freispruch. Im kommenden Jahr komme ich wahrscheinlich noch einmal dran. Dann werde ich zumindest wissen, was mich erwartet. (Nora Laufer, 13.10.2019)