PiS-Chef Jarosław Kaczyński verspricht das "polnische Modell des Wohlfahrtsstaates" und sozialen Schutz wie im Westen. Im Gastkommentar zeigen Piotr Buras und Paweł Zerka vom Thinktank European Council on Foreign Relations auf, warum die Reformen seiner Partei nicht zu einer Gesellschaft bewusster Bürger, sondern zu einer Gemeinschaft von Kunden und Verbrauchern führen.

Die Meinungsumfragen scheinen ein relativ klares Bild zu zeichnen. Die herrschende konservative und nationalistische PiS-Partei unter der Führung von Jarosław Kaczyński wird wohl vier weitere Jahre Polen alleine regieren. Bei der Parlamentswahl am Sonntag dürfte sie mehr als 40 Prozent der Stimmen erhalten – mehr als die beiden größten politischen Gegner (Liberale und Linke) zusammen.

Polarisierte Gesellschaft

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Ein Pride-Marsch in der polnischen Stadt Kalisz.
Foto: REUTERS/Stoyan Nenov

Doch wer daraus folgert, dass PiS die Herzen und Hirne der Polen vollständig erobert hat, liegt falsch. Die polnische Gesellschaft ist sehr facettenreich und politisch polarisiert. Die PiS-Wähler sind nur eine gut mobilisierte Minderheit. Einer ECFR-Umfrage zufolge stehen die Ansichten der Mehrheit der Polen zu Themen wie EU-Politik, Trump, Zukunft der Staatsfinanzen und sogar Abtreibung oder LGBT-Rechte im Widerspruch zur Meinung der Mehrheit der PiS-Wähler.

Der politische Schwerpunkt von PiS liegt auf dem Wohlfahrtsstaat, und darauf gründet Kaczyńskis Macht. Sogar jene, die Positionen der Partei ablehnen, unterstützen ihre Sozialpolitik – und profitieren davon. Die Notwendigkeit einer stärkeren Rolle des Staats zur Bereitstellung sozialpolitischen Schutzes ist nicht überraschend. Breite Schichten der Gesellschaft sind vom großen Wunsch erfüllt, von den Errungenschaften der schmerzhaften Transformation nach 1989 zu profitieren. Der Wohlfahrtsstaat ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Vision einer guten Gesellschaft und etwas, das die Polen seit dem Ende der kommunistischen Herrschaft anstreben.

Direkte Geldtransfers

Das bestehende, von Kaczyński entworfene "polnische Modell" des Wohlfahrtsstaats ebnet jedoch nicht den Weg zu einer modernen Gesellschaft, die auf gegenseitigem Vertrauen, Solidarität und Selbstorganisation beruht. Die ihm zugrunde liegende Staatsvision ist anachronistisch. Und anstatt einige schon lange bestehende Fehlentwicklungen der polnischen Gesellschaft zu überwinden, wird es diese nur aufrechterhalten und stärken.

Hauptmerkmal des "polnischen Modells" ist, dass es auf direkten Geldtransfers und nicht auf öffentlichen Dienstleistungen aufbaut: Familien erhielten endlich Kindergeld, Rentner zusätzliche jährliche Zahlungen, Schulkinder Sonderzuschüsse für Lehrbücher, Arbeitnehmer einen aufgestockten Mindestlohn und Behinderte eine Reihe wichtiger Zuwendungen. Im Wahljahr hat die Regierung die Ausgaben für einige dieser Sozialprogramme noch verdoppelt. PiS schlägt zudem vor, das Rentenantrittsalter für Frauen auf 60 und für Männer auf 65 Jahre zu senken, was das System beinahe untragbar machen würde.

Katastrophale Bildungsreform

Doch während die Sozialtransfers exorbitant zunehmen, wird die Qualität der staatlichen Leistungen immer schlechter. Die Bildungsreform erwies sich als Katastrophe und verursachte Chaos in den Schulen. Lehrer werden so schlecht bezahlt, dass Schulleiter vergeblich versuchen, immer mehr offene Stellen zu besetzen. Die erwartete Mindestlohnerhöhung wird bei ihnen nur noch mehr Frust erzeugen, weil ihre Gehälter einer gesonderten Regelung unterliegen. Laut der unabhängigen Stefan-Batory-Stiftung ist die Zahl der Familien, die in den privaten Bildungssektor gewechselt sind, unter der PiS-Regierung gestiegen.

Die Situation im Gesundheitswesen ist noch schlimmer. Immer mehr Krankenhäuser schließen wegen einer horrenden Schuldenlast, während jene, die noch offen sind, unter der Auswanderung von Ärzten leiden. Die öffentlichen Gesundheitsausgaben sind in Polen niedriger als fast überall sonst in Europa. Und diejenigen, die in der Gesellschaft bessergestellt sind, wenden sich privaten Anbietern zu. Und um all das bezahlen zu können, privatisiert PiS öffentliche Leistungen – was in krassem Widerspruch zum Konzept des Wohlfahrtsstaats steht.

Staat ohne Zivilgesellschaft

Das von PiS propagierte Modell wird wohl von vielen Polen gutgeheißen. Dem Land haben schon immer zwei Grundvoraussetzungen für einen gut funktionierenden modernen (Sozial-)Staat gefehlt: eine starke Zivilgesellschaft und das Konzept der Staatsbürgerschaft. Während "Familie" und "Nation" im polnischen Wertesystem stets dominierende Kategorien waren, gab es eine riesige Kluft zwischen den beiden. Das Fehlen von Sozialkapital wurde schon immer als eines der Haupthindernisse für die Modernisierung des Landes gesehen.

Nach 1989 verfolgten die reformorientierten Eliten das Ziel, Polen für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Sie setzten dabei auf die Unterstützung von NGOs, Dezentralisierung und die Förderung der Zusammenarbeit von Bürgern auf lokaler Ebene.

Familie und Nation

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In PiS-Chef Kaczyński Staatsvision fehlt eine unabhängige Zivilgesellschaft.
Foto: REUTERS/Kacper Pempel

Das PiS-Programm allerdings versucht nicht, die Mängel der traditionellen Sozial- und Wertestrukturen zu überwinden, es akzeptiert diese. Familie und Nation sind die Kernpunkte im Parteiprogramm. Eine unabhängige Zivilgesellschaft fehlt in dieser Staatsvision. Es ist davon auszugehen, dass die neue Regierung weiter versuchen wird, die Macht lokaler Gebietskörperschaften einzuschränken, staatliche Mittel für NGOs zu kürzen, Journalisten Vorschriften aufzuerlegen und die Unabhängigkeit der Justiz zu beschneiden.

Dafür wird das polnische Modell des Wohlfahrtsstaats instrumentalisiert. Die PiS-Vorschläge funktionieren von oben nach unten: Die Regierung kümmert sich um die finanziellen Bedürfnisse der Bürger, dafür lässt sie diesen immer weniger Raum, zusammenzuarbeiten, Verantwortung wahrzunehmen, unabhängig zu handeln und sich selbst zu organisieren. Außerdem wird in diesem Modell das Ziel verworfen, mit staatlichen Leistungen eine starke Bindung der Gesellschaft zu schaffen. Zusammen mit anderen PiS-Reformen führt das nicht zu einer Gesellschaft bewusster Bürger, sondern zu einer Gemeinschaft von Kunden und Verbrauchern.

Die Attraktivität der PiS-Versprechen ist schwer zu übertreffen, weil sie einem lange ersehnten Ziel der Polen entsprechen. Aber in vielen anderen Fragen vertritt PiS nicht die Werte und Meinungen der Mehrheit der Bevölkerung. Der Konflikt zwischen Aktivismus auf lokaler Ebene und zentralistischem Ehrgeiz wird den Kurs der polnischen Politik im nächsten Jahrzehnt bestimmen. Polens jüngste Geschichte sollte dennoch nicht den Eindruck erwecken, dass das Ergebnis dieses Konflikts bereits bekannt ist. (Piotr Buras, Paweł Zerka, 13.10.2019)