Der Verlust dieser 32 km² schmerzt besonders. Wenn sogar Liesing, der flache Stadtteil im Südwesten Wiens, an die Türkisen geht – ist dann alles verloren?

Susanne Deutsch ist Vorsitzende der Sektion Alterlaa. Sie findet, der Wahlkampf sei schlicht zu kurz gewesen, um alle Themen der Sozialdemokratie unterzubringen.
Foto: Christian Fischer

Die SPÖ schafft hier, in jenem Bezirk, aus dem mit Werner Faymann, Doris Bures oder Christian Deutsch einige Schwergewichte des roten Spitzenpersonals stammen, bei der Nationalratswahl vor zwei Wochen 27,08 Prozent. Damit liegt sie hinter der ÖVP. Über die Bezirksgrenzen hinweg ist es den Sozialdemokraten zwar gelungen, Platz eins zu halten, fast 80.000 Wienerinnen und Wiener haben sich diesmal aber für die Konkurrenz entschieden. Der 23. Bezirk wurde "gedreht". Das Ergebnis entspricht in etwa jenem des Wohnparks Alterlaa.

Die weißen Riegel, die sich in drei langen Reihen über 240.000 m² des Bezirks ziehen, sind das Zuhause von rund 10.000 Menschen. Es gibt einen Park, ein Einkaufscenter, zwei Schulen, drei Kindergärten, Freizeitklubs von Bridge bis Keramik, Angebote für Tänzer, für Gläubige, einen eigenen Fernsehsender – und ein Schwimmbad auf dem Dach jeder Wohneinheit.

Der Wahlkampf war zu kurz

In Block A, ganz vorne bei der U6, nehmen in einem halogenbeleuchteten Raum im ersten Stock jeden Donnerstagabend bis zu 20 Genossinnen und Genossen der Sektion Alterlaa an einem langen, in rotes Plastik gehüllten Tisch Platz und diskutieren. Freundschaft! Wie sie das desaströse Wahlergebnis der Sozialdemokraten erklären? Ob jetzt endlich der Zeitpunkt für radikale Reformen gekommen ist?

"Die Themen gehören zu den Menschen getragen", eröffnet Susanne Deutsch, die Vorsitzende der Sektion, ihre Nachwahlanalyse. So, wie es die Sektionsmitglieder hier im Wohnpark bei jeder Gelegenheit machen: Flyer verteilen auf der Straße, Kürbis schnitzen mit den Kleinen, bald steht wieder die Aktion "Kekse verteilen" an – da komme man immer leicht ins Gespräch. Hier finden sie statt, die vielgepriesenen Hausbesuche, die Diskussionsabende und Vorträge ranghoher roter Funktionäre. Und trotzdem.

"Ich bin nicht zufrieden. In meinem jugendlichen Eifer ist mir alles immer zu wenig", kokettiert Willi, ein Roter, seit er denken kann, mit seinem etwas fortgeschrittenen Alter von über 80 Jahren. Er schilt die Medien, die komplexe Themen nur sehr vereinfacht darstellten. Er schilt aber auch die eigene Partei, etwa, weil sie die rote Position betreffend Migration "im Wahlkampf viel zu spät" zum Thema gemacht habe.

Ist das denn überhaupt passiert? Hätte die Parteispitze das von den Landeshauptleuten Hans Peter Doskozil (Burgenland) und Peter Kaiser (Kärnten) erarbeitete Positionspapier – Stichwort "Integration vor Zuzug" – stärker publikmachen müssen? Da drängt sich auch hier in der Sektion keiner mit einer prononcierten Ansage vor. Franz, einer der Jüngeren in der altersgemischten Gruppe, hält ein kurzes Plädoyer für den Wert der Solidarität, Frau Deutsch befindet, der Wahlkampf war "einfach zu kurz" – Punkt.

Sitzung in der Sektion Alterlaa: auf den Tischen rotes Plastik, dahinter die Galerie der ehemaligen Parteivorsitzenden. Die Reihe endet mit Christian Kern – derzeit. Die grantige Katze ist Michael Häupl nachempfunden – auch ein "Ehemaliger", als die Zeiten noch bessere waren.
Foto: Christian Fischer

Auch über Personen reden die Liesinger nicht so gerne. Willi tut es dann doch. Er findet es ungerecht, wie Christian Deutsch, seit kurzem Bundesgeschäftsführer und als Liesinger Bezirksvize immer wieder Gast in der Sektion, in den Medien dargestellt wird.

"Chefideologe ist nicht seine Aufgabe. Er soll umsetzen, was in den Gremien beschlossen wurde." Und dass Deutsch über ein außerordentliches Organisationstalent verfüge, bestätigen alle hier im Raum – auch die Exfrau (nur falls sich jemand ob der Namensgleichheit Gedanken über die Familienverhältnisse gemacht hat). Aber wenn er schon dabei ist, will Willi gleich mit einer zweiten Legende aufräumen: "Der Christian ist kein Königsmörder." Wenn Deutsch etwas für falsch halte, "dann sagt er es" – auch wenn es sich um den Wiener Bürgermeister handeln sollte.

Roman, ein Bankangestellter Anfang 30, hat dann doch einen Wunsch: "Wir müssen unsere Forderungen klar und unmissverständlich transportieren", sodass man sie da draußen auch verstehe. Das gelte auch für komplexe Themen, etwa den Pflegebereich. "Das müssen wir besser machen", sagt Roman. Wer das als Kritik an SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner lesen will, kann das gerne tun. Viel mehr an Obfrau-Schelte kommt hier an diesem Abend aber nicht mehr. Im Gegenteil.

Die Richtung stimmt

Zwar ist man bei der Frage nach der Notwendigkeit einer Organisationsreform geteilter Meinung. Roman stößt mit seiner Theorie in Sachen Statutenänderung aber nicht auf Ablehnung. Sie lautet: Hätte die SPÖ die immer wieder geforderte Direktwahl ihrer oder ihres Vorsitzenden längst umgesetzt, "dann gäbe es diese Personaldiskussionen wie derzeit nicht". Die Gruppe ist sicher: Pamela Rendi-Wagner wäre "mit überwältigender Mehrheit" von den Mitgliedern gewählt worden – und hätte sich damit einiges an öffentlich zur Schau getragenem Widerstand erspart.

Irgendwann an diesem Abend fallen dann die Worte "die Richtung stimmt". Nachsatz: "Auch wenn uns dieser Ausspruch schon auf den Geist geht." Fakt ist: Von einer Neugründung der Partei träumt hier im Wohnpark Alterlaa niemand.

Tina Rosenberger ist SJ-Vorsitzende in Liesing. Hier hat man große Ideen, freut sich aber schon über bescheidene Erfolge. Eine Urabstimmung über künftige Parteivorsitzende steht ganz oben auf der Wunschliste der roten Jugend.
Foto: Christian Fischer

Wobei: Eine junge Genossin hat eine ganze Reihe von Reformideen. Sie hält sich beim Sektionsabend aber ganz bewusst zurück. Tina Rosenberger hat dem STANDARD bereits tags zuvor beim Gruppenabend der lokalen Sozialistischen Jugend die Tür geöffnet. Man trifft sich in einem schmucklosen, kleinen Raum im Erdgeschoß eines Wohnblocks gleich am Liesinger Platz. Es ist jenes Klublokal, in dem bereits Ex-Parteichef Faymann und die spätere Nationalratspräsidentin Bures in ihrer Jugend womöglich revolutionäre Gedanken entwickelt haben.

Vier junge Burschen finden sich ein. Auch sie wollen lieber über Themen als über Personen reden. "Weil es nicht reicht, einfach nur Köpfe auszutauschen", sagt SJ-Vorsitzende Rosenberger und erklärt mit Blick zurück: "Nur weil der Vorsitzende weg war, hieß das noch lange nicht, dass die Partei sich so entwickelt hat, wie wir das gerne hätten – nämlich wesentlich linker." Die Erfahrung lehre, dass es eine Urabstimmung über die Person an der Spitze braucht – "es kann nicht sein, dass sich das alte Anzugträger alleine ausschnapsen", findet die 27-Jährige.

Lachen mit Doris Bures

Der Sektempfang schräg vis-à-vis in der Bezirks-SPÖ am Tag nach der Wahl sei jedenfalls mehr eine Kundgebung für die Generation 60 plus denn eine kritische Nachwahlanalyse gewesen, befindet Maturant Oli. Der 19-jährige Moritz muss heute noch lachen, wenn er daran denkt, wie Bezirksvorsitzende Doris Bures versucht habe, "den Begriff des Apparatschiks in Zusammenhang mit der Bestellung von Christian Deutsch als Urban Myth darzustellen".

Link, rechts, umgründen, neugründen? Rudi Fußi und Georg Dornauer lieferten sich am Freitagabend einen spannenden Schlagabtausch über die Erneuerung der Sozialdemokratie. Unser Best-of. Lust auf mehr? Die ganze Debatte zum nachsehen gibt es hier.
DER STANDARD

Tina Rosenberger, die Deutsch auch aus der Sektion kennt, will fair bleiben: Immerhin suche Deutsch das Gespräch. Er müsse den Job jetzt aber anders anlegen als früher gewohnt und seine Pläne nicht nur mit den Funktionären ganz oben abstimmen. Als Zeichen der Erneuerung sieht sie ihn nicht.

Zum roten Generationenkonflikt kommt es regelmäßig bei diversen Anträgen. Dass jene der SJ bereits im Bezirk abgelehnt werden, habe ein bestimmtes Muster, wird berichtet. Martin, der Junge mit Nickelbrille, erinnert sich, wie der Protest gegen das Essverbot in U-Bahnen abgeschmettert wurde: "Da bin ich fast geplatzt! Die haben alle dagegengestimmt, fahren aber mit dem Auto!"

Man freut sich über bescheidene Erfolge: Beim regelmäßig zelebrierten Antrag auf Abschaffung der Antragsprüfungskommission (die Jugendvertreter sind hier in der absoluten Minderheit) hat zuletzt ein Genosse für die Jungen das Wort ergriffen: Es war Willi, der 80-jährige Revoluzzer aus der Sektion Alterlaa. (Karin Riss, Agenda, 12.10.2019)