Der Literaturnobelpreis für Peter Handke wird leidenschaftlich diskutiert. Im Gastkommentar widmet sich der in Belgrad aufgewachsene Schriftsteller Marko Dinić Handkes Serbientümelei.

Cartoon: Felix Grütsch

Ich erinnere mich nur mehr vage an einen Ausschnitt aus Peter Handkes Roman "Die Stunde der wahren Empfindung", in welchem der vom Ekel dieser Welt getriebene Protagonist (oder ist er mehr ein Antagonist seiner selbst?) sein Unvermögen äußert, sich auf Politik oder Tagespolitisches einen Reim machen zu können. Auf Gregor Keuschnig prasselt die Welt und der mit ihr einhergehende Schwindel nur ein. Mehr Trichter als Sieb, begegnet er seiner Umgebung und ihren Menschen mit derselben Schonungslosigkeit, mit der er sich selbst begegnet.

Nun mögen mir Germanistinnen und Germanisten in meiner knappen Interpretation widersprechen, und auch die leidlich zitierte Stelle mag nur der Ausdruck meines Ticks sein, mir die Welt so zurechtzulegen, wie ich sie gerade brauche. Doch bei Handke sehe ich lieber zweimal hin, als dass ich eine Gelegenheit ausließe, aus der Kurzsichtigkeit seiner eigenen Protagonisten bezüglich gesellschafts- wie realpolitisch delikater Weltläufe nicht auch seine eigene Kurzsichtigkeit bezüglich derselben herauszulesen. Schließlich ist Handke einer der ganz Großen in der Literatur (nun auch mit offiziellem Amtssiegel), und in meiner Vorstellung sind gerade die Großen auch begnadete, ja beinahe notorische Fährtenleger.

Handkes Serbientümelei

Seit ich 2008 fürs Studium von Belgrad nach Salzburg zog, begleitete mich die Person Peter Handke schrittgenau. Seine Literatur – und das ist mein ganz persönliches Versäumnis – entdeckte ich erst einige Jahre später. In Serbien, wo ich aufwuchs und meine Kindheit verbrachte, kam uns der Name dieses von einer kärntner-slowenischen Mutter abstammenden Literaturungeheuers im Unterricht und auch im Studium nicht einmal unter. Wieso dem so war, kann ich im Nachhinein nur mutmaßen – schließlich gab es in Belgrad genug Professoren, denen gerade der Umstand, dass Handke bei Slobodan Miloševićs Beerdigung eine Rede gehalten oder eine Wahlempfehlung für den ultranationalistischen Chauvinisten Tomislav Nikolić abgegeben hatte, mehr als gelegen, um ihre ewige Indoktrinationsmaschinerie zu ölen.

Ich jedenfalls wurde, was Handke und seine Serbientümelei betrifft, weitestgehend verschont und verschonte mich, in Österreich angekommen, von da an, so gut es eben ging, selbst. Wieso hätte ich mich auch mit der Literatur von jemandem auseinandersetzen sollen, der sich offen für ebenjene Leute aussprach, die mich und meine Generation jahrzehntelang als Geiseln hielten und das Land, in dem ich aufwuchs und an dem unwillkürlich meine Eingeweide hängen, haben ausbluten lassen – die das Land immer noch als Geisel halten. Konfrontiert mit der politischen Kurzsichtigkeit Handkes, war ich gleichzeitig auch konfrontiert mit der politischen Kurzsichtigkeit des Westens, der sehr gerne vergisst, dass vor nicht einmal 20 Jahren der blutigste Krieg seit Ende des Zweiten Weltkriegs auf europäischem Boden stattfand. Der Nationalismus ist dabei wahrlich keine Erfindung der Serben – er ist das Gift, das in gar nicht mal so kleinen Dosen zu streuen wohl immer noch niemandem fad geworden ist. Auch heute noch.

Politische Blindheit

Doch ist die politische Einstellung (oder die politische Blindheit) eines Menschen Grund genug, sich seiner Literatur zu verwehren? Schließlich las ich Céline und Cioran, die wahrlich keine Kostverächter in Sachen Faschismus und Antisemitismus waren.

Das erste Buch, das ich von Handke las, war tatsächlich "Gerechtigkeit für Serbien", mehr noch: Ich hielt ein Referat über dasselbe in einem Seminar an der Universität zum Werk von Peter Handke. Ausgerüstet mit für Handkes Poetik wichtigen Begriffen wie der Schwelle, dem Bildverlust oder dem neunten Land, lag vor mir ein Text, der keine Seiten einnahm oder gar nationalistische Stellungen bezog. Es war ein Text, der augenfällig nach Perspektive suchte.

Jugoslawische Utopie

Dennoch fragte ich mich, wie es sein konnte, dass jemand mit solch einem OEuvre und einer solch wohlfeilen Poetik im Nacken sich von serbischen Nationalisten hofieren ließ und sich außerhalb seiner Bücher offen auf die Seite dieser xenophoben Aasgeier stellte. Die Antwort fand ich in Büchern wie "Der Chinese des Schmerzes, Die Stunde der wahren Empfindung" oder "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter". Wenn die Protagonisten dieser Bücher eines an den Tag legen, dann ist es ein weltumspannendes Unvermögen, und zwar in allen gesellschaftlichen Belangen und bürgerlichen Normen. Sie nagen an der Existenz einer aus allen Fugen geratenen Welt, die, je mehr Wissen sie anhäuft, immer dümmer wird.

Ich weiß dennoch zu wenig über Handke und sein ungeheures Werk, als dass ich mir ein objektives Urteil über sein persönliches Unvermögen bezüglich der serbischen Politik oder gar der Politik im Allgemeinen anmaßen könnte. Ich kann lediglich interpretieren: Vielleicht begrub er mit dem Ferkel Milošević seine eigene Idee von der jugoslawischen Utopie – vielleicht verabschiedete er sich so vom neunten Land? Verzeihen muss ich ihm diese Unsitte nicht, genauso wenig den Umstand, mich bei der Lektüre von "Mein Jahr in der Niemandsbucht" zu Tode gelangweilt zu haben. Doch da ist schließlich auch dieser andere Peter Handke (oder doch Gregor?), dieser monströse Erzähler, dem man neidisch hinterherliest und sich fragt, wie er mit solch einer Eleganz und Einfachheit die komplexesten erzählerischen Kreuzzüge löst, der Weltautor, von dem man als junger deutschsprachiger Schriftsteller jeglichen literarischen Kniff lernen kann.

Ich begrüße daher die Entscheidung der Schwedischen Akademie, Peter Handke den Literaturnobelpreis zuzuerkennen. Verzeihen werde ich ihr das aber nicht. (Marko Dinić, 11.10.2019)