Im meist flachen Abschnitt zwischen Ras al-Ayn und Tal Abyad hat die Phase eins der Offensive in Nordsyrien begonnen: Türkische Luftschläge, auch an anderen Stellen entlang der Grenze, und Artilleriefeuer begleiten den Einmarsch der Truppen – meist von Ankara unterstützte Rebellenmilizen. Ortschaften werden umstellt.

Während die Türkei den Tod von "Terroristen" vermeldet, häufen sich die Berichte über zivile Opfer. Das UN-Welternährungsprogramm spricht von mehr als 100.000 Menschen, die durch die Kämpfe vertrieben wurden. Die kurdischen YPG-Milizen kämpfen zurück. Abgesicherte unabhängige Berichte über die militärische Lage gibt es aber nicht.

Flüchtlinge aus dem Gebiet zwischen Ras al-Ayn und Tal Abyad kommen in der Stadt Hassakeh an.
Foto: AFOP/Delil Souleiman

Erklärungsbedürfnis der Türkei

Die Türkei macht sich große Mühe, ihre rechtliche Position international zu erklären: Sie beruft sich auf die Uno-Charta (Selbstverteidigungsrecht), Uno-Resolutionen, das türkisch-syrische Adana-Abkommen von 1998, das ihr die Verfolgung von "Terroristen" erlaubt, wenn Syrien das nicht selbst tut – und beansprucht sogar, die "territoriale Integrität Syriens" zu verteidigen. Demnach hätten die YPG-Milizen – für Ankara gleichzusetzen mit der türkisch-kurdischen PKK – den Norden Syriens "besetzt". Für diese Argumentation ist es wichtig, dass die türkischen Bodentruppen de facto aus syrisch-arabischen Rebellenmilizen bestehen, für deren Zusammenschluss die Türkei vor Beginn der Offensive gesorgt hat.

Und um die Bekämpfung des "Islamischen Staats" will Ankara sich ebenfalls kümmern. Präsident Tayyip Erdogan hat auch großangelegte Pläne, syrische Flüchtlinge im zu schaffenden "Sicherheitsstreifen" (480 km lang, 30 km breit) anzusiedeln: Einerseits wäre das eine Entlastung der Türkei, andererseits durch den Zuzug von Arabern eine demografische Schwächung der Kurden. Finanzierung: unbekannt.

Der kritischen EU droht Erdogan mit einer Flüchtlingswelle, aber Ankara lässt auch die Kritik an den USA nicht aus: Die Zusagen zur Schaffung einer gemeinsam überwachten Sicherheitszone habe Washington nicht eingehalten. Nun macht es Erdogan eben allein – und die Ablenkung von einer schwierigen innenpolitischen Lage in der Türkei kommt ihm sehr recht. Die Offensive hat Rückhalt in weiten Teilen der Bevölkerung.

Komplexe Gemengelage in Damaskus

Das Regime in Damaskus hat die türkische Offensive verurteilt: einerseits wegen der neuen türkischen Präsenz, die ja auch schon im Westteil der türkisch-syrischen Grenze und in Idlib ein Faktum ist, andererseits, weil syrische Rebellengruppen zum Einsatz kommen. Die Türkei hat ja den Aufstand gegen Bashar al-Assad von Stunde eins an betrieben. Assad hat den Krieg zwar gewonnen, aber die Gebiete, in denen die Türkei Rebellen unterstützt, entziehen sich weiterhin der sonst überall erfolgreichen Rückeroberung.

Es gibt Überlegungen, dass Damaskus und die PYD/YPG-Kurden, gegen die sich Erdogans Offensive richtet, zusammenrücken könnten. Sie haben sich ja nie dem Anti-Assad-Aufstand angeschlossen, der im Lauf der Zeit immer islamistischer wurde. Aber Damaskus betont einstweilen, dass die Kurden durch ihre Partnerschaft mit den USA "Verrat" begangen hätten.

Im meist flachen Abschnitt zwischen Ras al-Ayn und Tal Abyad hat die Phase eins der Offensive in Nordsyrien begonnen: Türkische Luftschläge, auch an anderen Stellen entlang der Grenze, und Artilleriefeuer begleiten den Einmarsch der Truppen – meist von Ankara unterstützte Rebellenmilizen. Ortschaften werden umstellt.
Foto: APA/Der Standard

Der hin- und hergerissene US-Präsident

Der Aufbau der YPG-Kurden als Anti-IS-Truppe stammt aus Barack Obamas Zeit. Wie sein Nachfolger hasste er es, sich in Syrien zu engagieren, aber der "Islamische Staat" zwang ihn dazu. Die YPG wurden in eine größere militärische Organisation, die SDF (Syrische Demokratische Kräfte) eingebunden, um den türkischen Vorwurf zu entkräften, die USA betrieben in Syrien das Geschäft der PKK.

Trump wollte, sobald der IS territorial zerschlagen war, abziehen, blieb aber dann doch – und versuchte zuletzt die Quadratur des Kreises zwischen dem Nato-Partner Türkei und den Kurden. Das ist gescheitert – und es ist nicht anzunehmen, dass eine Trump-Vermittlung heute Erfolg haben könnte, wie er es selbst zu glauben scheint.

Zwei Seelen wohnen in Putins Brust

Die Position Russlands spiegelt mehr als alle anderen die komplexe Lage wider. Einerseits: Moskau ist der Abzug der US-Truppen aus Syrien zweifellos recht, wie ja auch dem Regime in Damaskus und dem anderen Verbündeten Assads, Iran. Andererseits: Gar nicht recht ist Russland die Gefahr, dass die Türkei – ein Gegner des Assad-Regimes – auf einem Streifen syrischen Territoriums dessen Marionetten einsetzen und stützen könnte und damit verhindert, dass das Gebiet unter die Kontrolle von Damaskus zurückkehrt.

Das Verhalten Russlands im Uno-Sicherheitsrat – wo Moskau, wie Washington auch, einer kritischen Erklärung zur türkischen Offensive die Zustimmung verweigerte – mag manche verwundert haben, ist jedoch nur logisch. Eine diplomatische Attacke könnte zum Zerbrechen des Syrien-Diplomatieformats "Astana" führen, in dem Russland, Iran und die Türkei trotz ihrer unterschiedlichen Positionierung zu Assad zusammenarbeiten.

Deshalb hat Moskau auch immer wieder angedeutet, dass es ein Handeln Ankaras innerhalb des Adana-Abkommens akzeptieren würde. Zur Erinnerung: Unter diesem Abkommen nimmt sich die Türkei das Recht, die PKK auch jenseits der syrischen Grenze zu verfolgen. Aber Adana ist natürlich zeitlich und räumlich (15 km ins Landesinnere) begrenzt. Der Moment der Wahrheit kommt also noch. Am Samstag sagte der russische Präsident allerdings bereits laut nationalen Nachrichtenagenturen, dass Syrien von einer fremden Militärmacht befreit werden müssten.

Russlands Ziel ist es, Ankara und Damaskus zu einer Zusammenarbeit zu bringen. Gegen eine Annäherung der YPG-Kurden an Damaskus hätte Moskau so lange etwas, als deren Bruch mit den USA nicht eindeutig vollzogen ist. Was ja Trump bestreitet.

Iran spielt im jetzt betroffenen Grenzgebiet eine kleine Rolle, baut aber systematisch seinen militärischen, aber auch kulturellen Einfluss in der Provinz Deir ez-Zor aus.

Hilflose Kritiker der Intervention

Die schärfsten Kritiker der türkischen Offensive sitzen in der EU, in Israel und in arabischen Ländern. Die Europäer, die auf die Sicherheitsrats-Sondersitzung drangen, betonen die humanitäre Seite und befürchten neue Flüchtlinge – und warnen vor den Risiken einer Wiederauferstehung des IS, wenn er nicht mehr von den YPG in Schach gehalten wird. Dazu kommt die Frage der IS-Gefangenenlager, die jetzt unter kurdischer Kontrolle stehen.

Auch Israel zeigt sich solidarisch mit den Kurden, muss sich aber auch fragen, wie verlässlich Trump, auf den die israelische Regierung von Benjamin Netanjahu alles gesetzt hat, ist. Dass Trump so ohne Weiteres bereit ist, aus Syrien abzuziehen – wo sich der Iran und seine Stellvertretermilizen ausbreiten -, ist ernüchternd für Israel.

Das gilt aber auch für die arabischen Anti-Iran-Verbündeten der USA, allen voran Saudi-Arabien. Die Araber haben zudem eine historische Aversion gegen den wachsenden Einfluss Erdogans – aus saudischer Sicht ein Muslimbruder – in Syrien. Der türkische republikanische Islam und die neoosmanischen Allüren Erdogans sind ein Schreckgespenst, das aber auch zu mehr Engagement Saudi-Arabiens in Syrien führen könnte. (Gudrun Harrer, 12.10.2019)