Aus der Perspektive der EU und der europäischen Staatskanzleien war der Flüchtlingsdeal zwischen der Türkei und der Union von Beginn an sowohl Segen als auch Fluch. Segen deshalb, weil er die Zahl von Flüchtlingen, die aus dem Land am Bosporus via Griechenland nach Westeuropa weiterwanderten, 2016 radikal verringerte – und dieser Umstand wohl noch weitergehende Rechtsrucke, als sie in Europa ohnehin stattfanden, verhinderte.

Fluch wiederum, weil sich die EU durch das Abkommen ein Stück weit den Interessen des türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdoğan unterwarf – wenn schon nicht seinem Handeln, so doch seinen Drohungen.

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Der türkische Ministerpräsidenten Tayyip Erdoğan.
Foto: REUTERS/Djordje Kojadinovic

Das zeigte sich erneut in den vergangenen Tagen. Zwar bot man in der EU der Ankündigung des türkischen Machthabers, die Türen nach Europa für 3,6 Millionen Menschen zu öffnen, rasch Paroli. EU-Ratspräsident Donald Tusk sprach mit Recht von einem Versuch Erdoğans, Flüchtlinge als Waffen zu verwenden. Doch auch ein gewisses Erzittern war unionsweit spürbar. Es ist Ausdruck einer fatalen Abhängigkeit, welche die politische Handlungsfähigkeit Europas gegenüber dem diktatorischen und kriegerischen Vorgehen Erdoğans schmälert.

Asylpolitische Herausforderungen

Besonders bedenklich dabei: Diese Situation hält nun schon dreieinhalb Jahre vor. Zwar haben beide Vertragspartner seit dem Inkrafttreten des Deals im März 2016 ihre Vereinbarungen eingehalten. Aber die EU und ihre Mitgliedsstaaten konnten die erzielte Beruhigung der Situation nicht nutzen, um in der Bewältigung der asylpolitischen Herausforderungen weiterzukommen. Sie sind heute ebenso erpressbar wie vor vier Jahren.

Tatsächlich ist man in Europa seither bei der Frage, was mit den trotz Deals in Griechenland gestrandeten Menschen weiter geschehen soll, nur mit Trippelschritten weitergekommen. 22.000 Personen fanden in anderen EU-Staaten Aufnahme, weitere rund 12.000 konnten im Rahmen von Familienzusammenführung weiterreisen – beschämend wenige. Auch die versprochene Hilfe für Griechenland beim Abwickeln der Asylverfahren auf den Inseln ist großteils ausgeblieben. Die Zeche dafür zahlen die Flüchtlinge, die unter inakzeptablen Bedingungen in Griechenland überleben, und jene, die vielfach unter Lebensgefahr über den Balkan weiterreisen. Sollten in den kommenden Monaten wieder etwas mehr von ihnen nach Westeuropa kommen: Es ist dies die Folge einer vertanen asylpolitischen Chance in der EU. (Irene Brickner, 11.10.2019)