36 Prozent der Personen in der Mindestsicherung sind Kinder – und für viele davon bedeutet die türkis-blaue Reform weniger Geld.

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Als "treffsicher" lobte Sebastian Kurz das neue Modell der Sozialhilfe, mit dem die türkis-blaue Regierung die alte Mindestsicherung ersetzte. Was die verfügten Einschnitte betrifft, lässt sich dem Ex-Kanzler kaum widersprechen. ÖVP und FPÖ kürzten Leistungen für Kinder – und treffen damit tatsächlich eine große Gruppe. 36 Prozent der Personen in der Mindestsicherung sind Kinder, der Anteil ist damit größer als jener der erwachsenen Frauen und Männer.

Diese Zahl stammt aus der nun vorgelegten Jahresbilanz der Statistik Austria. Die Daten beziehen sich auf 2018 und damit noch auf das alte System der Mindestsicherung – das türkis-blaue Modell wird, sofern eine etwaige neue Regierung nichts daran ändert, erst im kommenden Jahr in Kraft treten. Dennoch bietet die Analyse viel Stoff, um gängige Argumente zu überprüfen, die auch in den laufenden Koalitionsverhandlungen eine Rolle spielen: Schließlich dürfte die Mindestsicherung einer der Streitpunkte zwischen ÖVP und Grünen auf dem Weg zur gemeinsamen Regierung werden.

Behauptung: Es braucht Kürzungen, um Anreiz zum Arbeiten zu geben Die Daten zeigen, dass die Mehrheit der Bezieher schlicht deshalb nicht arbeitet, weil sie nicht kann oder darf. Acht Prozent der Bezieher sind erwerbstätig, stocken also mit der Mindestsicherung ihr niedriges Einkommen auf, weitere 36 Prozent stehen nicht im Erwerb, dem Arbeitsmarkt aber zur Verfügung. Die restlichen 56 Prozent sind aus dem Spiel: weil sie in Pension sind, krank sind, andere Menschen betreuen oder eben noch Kinder sind (siehe Grafik).

Am höchsten ist der Anteil der Kinder mit 44 Prozent in Tirol vor Oberösterreich mit 41 Prozent. Aber nicht jeder Minderjährige in einem Bezieherhaushalt erhält Geld aus der Mindestsicherung: 20 Prozent der Kinder bekamen nichts, weil ihr Bedarf etwa von Unterhaltsleistungen gedeckt ist.

Behauptung: Die Mindestsicherung verleitet auf Dauer zum Nichtstun Die durchschnittliche Bezugsdauer betrug im Vorjahr 8,6 Monate. 70 Prozent der Bezieher lagen im Bereich von sieben bis zwölf Monaten, 14 Prozent bekamen vier bis sechs Monate, die restlichen 16 Prozent maximal drei Monate Geld. Langjährigen Vergleich gibt es österreichweit nicht. In Wien aber ist die durchschnittliche Dauer seit 2012 von 8,9 auf 9,3 Monate gestiegen. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang: Für Arbeitsverweigerer sind schon heute Kürzungen vorgesehen, die Arbeitssuche hängt nicht nur vom Willen, sondern auch von Qualifikation und Jobangebot ab.

Behauptung: Die Bezüge reichen in Dimensionen von tausenden Euro Ja, es gibt die hohen Leistungen, die türkise und blaue Politiker anprangern. Eine Familie mit sechs Kindern kann in Wien in die Region von 3000 Euro im Monat gelangen, wenn Mietbeihilfe dazukommt. Doch die Regel ist das nicht, wie Statistik Austria-Experte Kurt Pratscher erläutert. Im Österreich-Schnitt lag die monatliche Leistung für eine "Bedarfsgemeinschaft" – sprich: Haushalt – 2018 bei 638 Euro, am meisten gab es mit 813 Euro in Vorarlberg, am wenigsten mit 497 Euro in Oberösterreich. Pro Person betrug der Monatsbezug 329 Euro, mit einer Spanne von 249 Euro in Oberösterreich bis 345 Euro in Wien.

Übrigens: In der Bundeshauptstadt kommen laut Daten des Magistrats aus dem Vorjahr gerade 0,06 Prozent der Bezieher-Haushalte auf 3000 Euro aufwärts.

Behauptung: Die Bezieherzahlen und Kosten explodieren Insgesamt bezogen im Vorjahr 289.646 Personen die Mindestsicherung, 58 Prozent davon lebten in Wien. Die Zahl ist gegenüber 2017 damit um 5,9 Prozent geschrumpft, die Kosten sind von 977 auf 941 Millionen gesunken.

Davor gab es aber fünf Jahre lang Anstiege. Insgesamt liegen Personenzahl (plus 31 Prozent) und Kosten (plus 65 Prozent) heute weit über dem Wert von 2012. Erklärungen für den "Boom" sind die Wirtschaftskrise ab 2008, der Zustrom von Zuwanderern und Flüchtlingen, mehr McJobs und psychische Erkrankungen von Arbeitnehmern, aber auch die Einführung der Mindestsicherung im Jahr 2010: Das neue Modell wurde von sozial Bedürftigen stärker in Anspruch genommen als die alte, oft als stigmatisierend empfundene Sozialhilfe.

Behauptung: Vor allem Ausländer leben von der Mindestsicherung In der Tat sind Zuwanderer stark überrepräsentiert, Tendenz steigend: 53 Prozent der Bezieher hatten mit Stand 2018 keine österreichische Staatsbürgerschaft, im Jahr davor war es noch genau die Hälfte. 35 Prozent sind Asyl- oder subsidiär Schutzberechtigte gegenüber 31 Prozent 2017. Zum Vergleich: Gemessen an der Gesamtbevölkerung haben nur 16,2 Prozent der Menschen keine österreichische Staatsbürgerschaft.

Behauptung: Die Sozialkosten wachsen dem Land über Kopf Eines sollte man bei allen Diskussionen für und wider die Mindestsicherung nicht vergessen, empfiehlt der Statistiker Pratscher: Die 941 Millionen an Kosten für 2018 machen lediglich 0,8 Prozent der gesamten staatlichen Sozialausgaben von 112 Milliarden aus. (Gerald John, 11.10.2019)