Bertolt Brecht mit kolossalem Stumpen, vor ihm: die wunderbar resolute Claudia Sabitzer (in der Doppelrolle von Shen Te/Shui Ta).

Foto: Neubauer/APA

Unter dem Blick Bertolt Brechts gibt man im Wiener Volkstheater dessen "Der gute Mensch von Sezuan". Riesig klebt das Foto des Dichters auf einem Turm auf der Bühne (Gabriela Neubauer). Der Koloss aus Spanplatten dreht sich fast ohne Unterlass. Im oberen Stockwerk hat die Prostituierte Shen Te (Claudia Sabitzer) ihr Zimmer, im unteren einen Laden für Tabak. Daraus reicht sie mannshohe Zigaretten über die Theke – allerdings nicht allzu viele. Sie ist beim Immobilienkauf übers Ohr gehauen worden, die Arbeiter aus der nahen Zementfabrik verdienen zu wenig, um Kunden zu werden. Noch lässt sie sich nicht entmutigen. Sie gibt denen, die es schlechter haben als sie, sogar jeden Morgen Reis aus.

Ob diese Aufführung des Stückes Brechts Wohlwollen fände? Gut möglich. Nicht nur, weil man ihm die Freude macht, auf der Bühne paffen zu dürfen: eine Zigarette in seinem Mund stößt dann und wann Rauchwölkchen aus. Die Handlung steht diesem Haus gut an. Das Stück handelt von drei Erleuchteten, die auf die Erde kommen, um hier einen guten Menschen zu finden, der trotzdem noch glücklich ist. Sie tragen im Volkstheater steife Stoffe; nicht bequemer ist ihre Suche. Dass sie sich im fernen China umsehen, liegt an einem Faible Brechts dafür. Er war aber Ende der 1930er, als er das Stück schrieb, auch im Exil vor den Nazis. Da wähnte er das Gute nicht im alten Europa.

Sabitzers Shen Te ist robust im Ton. Brecht beschreibt ein universales System von Begüterten und Verlierern, sie greifen wie Zahnräder ineinander. Der Text will Sand in diesem Getriebe sein, indem er dessen Skrupellosigkeit aufzeigt: Hat der gute Mensch in dieser Welt eine Chance, nicht ausgenützt zu werden? Nein. Denn wo Teller leer sind, raufen die Hungrigen.

Gesang durch Mark und Bein

So ein Hungriger ist der Wasserverkäufer Wang (Lukas Watzl), sein Klagegesang geht durch Mark und Bein. Er schenkt sein Nass zwar in Bechern mit doppeltem Boden aus, aber dass er darum nicht schlecht ist, glaubt man dem schnaufend Diensttuenden sofort. Ein um den Aufstieg aus Fleiß Betrogener ist auch der Flieger Yang (Jan Thümer). Shen Te rettet ihn vor dem Strick, den er pantomimisch im Schnürboden festgezurrt hat. Aus ihrer Zuneigung will er bald zu seinen Gunsten Kapital ziehen.

Brecht will weniger unser Herz rühren als den Kopf. Deshalb hat er den Verfremdungseffekt erfunden, der Distanz zum Geschehen herstellt. Solche Effekte bilden die formale Stütze der Inszenierung, auch mittels der Kostüme von Johanna Hlawica: Eine achtköpfige Familie steckt in einem riesigen Mantel, durch dessen unzählige Ärmel die Darsteller mit gierigen Händen greifen. Tolle Idee!

Die schmissige Band um Imre Lichtenberger Bozoki bringt indes ihr Podest am Bühnenrand zum Wackeln, wenn sie Paul Dessaus Musik in die Szenen schmettert und zwecks irritierendem Moment mit schrägen Sounds Bewegungen der Figuren akzentuiert. Dazu lässt Regisseur Robert Gerloff sein Ensemble hoppsen, im Gleichschritt tänzeln oder ein Wort zum Singsang dehnen. Zweieinhalb Stunden ziehen dank dieser Details flott dahin und werden trotz der deutlichen Botschaft nie verbissen oder rührselig. Dafür verdient langer und stürmischer Applaus. (Michael Wurmitzer, 13.10.2019)