Foto: Regine Hendrich

Am 20. Juni lässt Noha ihr altes Leben hinter sich. Es ist ein warmer Sommertag, nicht heißer als in Ägypten, als sie mit ihrem Bruder Mohammed (9), Schwester Jana (3) und ihrer Mutter Zeina (34) in Wien-Schwechat landet. Ihr Vater ist zu diesem Zeitpunkt bereits amtlich bestätigter Österreicher. Anfang 2019 hat Abdelfattah Salama (40), einst Deutschlehrer an einem Gymnasium in Ismailia, später langjähriger Mitarbeiter der Kulturabteilung der saudi-arabischen Botschaft in Wien, die Staatsbürgerschaft erhalten.

Die Salamas lassen sich in Schwechat nieder, zweieinhalb Monate später beginnt Noha, die in Ägypten gerade die sechste Klasse Grundschule abgeschlossen hat, in der NMS Schwechat-Frauenfeld. Weil sie nur Arabisch und etwas Englisch spricht, besucht Noha hier gleich zwei Klassen: eine zum Deutschlernen und eine, in der sie turnt, musiziert oder zeichnet. Auch den islamischen Religionsunterricht muss sie besuchen.

Alien trifft Stammklasse

Vier von sechs Stunden verbringt Noha also täglich bei Janine Thurner in der Deutschförderklasse. Hier sitzen 14 Kinder zwischen elf und 16 Jahren aus Kroatien, Serbien, Tunesien, Georgien. Sie arbeiten konzentriert an Arbeitsblättern und Unterrichtsmaterialien, die die junge Lehrerin in aufwendiger Heimarbeit zusammengestellt hat. Gerade werden die bestimmten Artikel wiederholt. "Das Frühstück, sehr gut!", lobt Frau Thurner. Manchmal muss sie nachhelfen: "Nein, es heißt nicht das Reis, sondern ...?" "Der Reis", fällt es dem Buben, der gerade dran ist, wieder ein.

Die restlichen zehn Wochenstunden besucht Noha ihre "Stammklasse", ein Stockwerk tiefer. Wo sie mehr Freunde hat? "Sie hat eine Freundin in der Förderklasse", erzählt ihr Vater, "in der anderen Klasse fühlt sie sich fremd." Klassenvorstand Felix Stadler kennt die Perspektive der restlichen 24 Kinder aus der 3B: "Natürlich fehlt sie. Wenn ein Kind nur einen Bruchteil der Zeit im Klassenverband ist, bleibt es ein Alien."Trotzdem, es bleibt dabei: Nohas "Stammklasse" ist hier, bei Herrn Stadler.

Türkis-blaues Prestigeprojekt

Eine begriffliche Verortung, die ÖVP und FPÖ bei der Einführung der Deutschförderklassen im Herbst 2018 gewählt haben – und auf die auch die vom Land entsandte Schulqualitätsmanagerin beim Besuch des STANDARD großen Wert legt. Elke Wimmers Anwesenheit macht das journalistische Bemühen um eine sachliche Darstellung des türkis-blauen Prestigeprojekts nicht unbedingt leichter.

Die Deutschförderklasse soll als Erfolgsmodell verkauft werden – vielleicht lässt Frau Wimmer, deren Profession bis vor kurzem noch Schulinspektorin hieß, deshalb keine Äußerung von Lehrkräften oder Direktorin unkommentiert. Immerhin: Jetzt, nach der Wahl, durfte der Termin überhaupt stattfinden. Davor hieß es aus der Bildungsdirektion: "Politisch zu heikel."

Für ÖVP-Chef Sebastian Kurz sind die Deutschförderklassen (neben Noten für Volksschüler und dem Kopftuchverbot) der Ausweis für seine konservative Bildungspolitik. Viel zu lange habe bei der Sprachförderung jedes Bundesland, jede Schule im Alleingang vor sich hingewerkelt – ohne zufriedenstellenden Output, so das Argument. Dazu ein paar Fakten: Laut einer 2018 erfolgten Sonderauswertung der Pisa-Studie sind Schülerinnen und Schüler mit ausländischen Wurzeln an österreichischen Schulen leistungsschwächer und auch weniger motiviert. Auch die Zahl derjenigen, die weder einen Job haben noch eine Ausbildung machen, ist unter jungen Migranten hierzulande hoch – die OECD spricht von 25 Prozent. So weit die aktuelle Situation. Die politische Schlussfolgerung, die ÖVP und FPÖ daraus gezogen haben, heißt Deutschförderklasse.

Kein Mathematikunterricht für Mathe-begeistertes Mädchen

"Ich habe zu Noha gesagt: Was, du hast kein Englisch?" Herr Salama ist empört. Nach und nach lernt er: Seine Tochter wird auch in Physik, Chemie oder Mathematik nicht unterrichtet. Mathematik! "In Ägypten war sie die Nummer eins in Mathematik" – die Beste der ganzen Schule. Seither sorgen sich die Eltern, der Vater telefoniert im Wochenrhythmus mit Mathematiklehrer Stadler und ersucht ihn: "Bitte geben Sie Noha Bücher!", man werde das Mädchen eben daheim unterrichten. Die Salamas erträumen für ihre Kinder ein gutes Studium, einen angesehenen Job – Ärztin etwa oder Richter. Sie wissen, damit diese Pläne in Erfüllung gehen, müssen sie Noha und ihre Geschwister ans Gymnasium bringen.

Um den Anschluss zu schaffen, haben sie zwei Jahre Zeit. Dann fällt Nohas Status als außerordentliche Schülerin, dann wird sie, wie alle anderen auch, benotet. Wird es möglich sein, die anderen Fächer positiv abzuschließen, wenn sie in dieser Zeit ausschließlich Deutschförderung bekommt?

Der dritte Neuanfang für einen Buben

Ein Bub aus der Deutschförderklasse muss das Experiment demnächst wagen. Er steht vor dem Wechsel in eine reguläre Klasse – der dritte Neuanfang für ihn. Wer in der Deutschklasse landet, steigt nicht mit der "Stammklasse" auf, sondern fängt jedes Jahr wieder auf derselben Schulstufe an (siehe Wissen unten). Direktorin Gudrun Taller versucht in Vorbereitung auf den Umstieg ein wenig Freiraum zu schaffen, damit der Bub bereits jetzt so oft wie möglich an den Deutsch-, Englisch- und Mathematikstunden teilnehmen und seine Fertigkeiten üben kann. "Sie trauen sich nicht reden", beschreibt Frau Thurner aus der Deutschförderklasse ein wesentliches Problem ihrer Schüler. Ließe sich diese Hürde nicht am besten in Gesellschaft sprachsicherer Peers bewältigen?

Erfolgsmodell?

Die Schulleiterin ist Pragmatikerin. Ja, organisatorisch seien die Deutschförderklassen eine Herausforderung. Aber es gebe auch Positives, etwa dass die Entscheidung darüber, wer überhaupt wie viel Förderung brauche, endlich Standardisiert erfolge: "Vorher haben wir eingestuft, wie wir es für richtig hielten – jetzt habe ich ein besseres Gefühl." Dass jene Kinder, die beim Einstufungstest "mangelhafte Deutschkenntnisse" hatten, jetzt nur sechs statt bisher elf Förderstunden bekommen, bleibt trotzdem nicht unerwähnt. Man versuche hier intern noch etwas mehr Sprachunterstützung zu ermöglichen, oberstes Ziel sei schließlich immer das Wohl der Kinder und ihre späteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Und während für Ex-Kanzler Kurz bereits feststeht, dass es sich bei der Einführung der Extraklassen um ein Erfolgsmodell handelt, geben sich die Praktiker weitaus vorsichtiger. "Erst nach ein bis zwei Jahren wird man beurteilen können, ob und wie weit sie das zurückgeworfen hat", glaubt Mathelehrer Stadler. Deutschlehrer Salama übt in der Zwischenzeit erste kurze Sätze mit Noha. Dass sie bisher nur einzelne Wörter gelernt hat, reicht der Familie nicht: "Ich mache alles, damit sie auf die deutsche Sprache nicht sauer ist." (Karin Riss, 14.10.2019)