In einer Pilotphase wird in der Steiermark die Schulreife von Kleinkindern mittels App festgestellt. Im Gastkommentar weist der Soziologe Christian Dayé von der TU Graz auf das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Forschenden und Beforschten hin.

Ärger um Schulreifetest in der Steiermark.
Foto: APA/BARBARA GINDL

Die in der Steiermark in einer Pilotphase durchgeführte Testung der Volksschulreife mittels App hat für erhitzte Gemüter gesorgt, insbesondere nachdem bekannt wurde, dass für manche Kinder dieses Erlebnis dermaßen frustrierend war, dass sie die Schule unter Tränen verließen.

Trotz des Ärgers waren die vorgebrachten Argumente erstaunlich sachlich. Das Testtool erwarte eine Aufmerksamkeitsspanne von zwanzig Minuten und liege damit deutlich über dem, was laut gegenwärtigem Forschungsstand angenommen werden könne. Die einzelnen Items seien geprägt von recht eigenwilligen, bildungsbürgerlichen Vorstellungen davon, was man zu wissen hat, und prolongieren somit die Vererbbarkeit von Bildungsungleichheiten. Die Erhebung eines Wissensstands, den zu vermitteln eigentlich erst die Aufgabe der Schule in den kommenden Monaten wäre, sei im Grunde genommen absurd.

Frage der Verantwortung

Aber wer ist für das Schlamassel verantwortlich? Geht man dieser Frage nach, offenbart sich ein strukturelles Problem aktueller Forschung mit Menschen. Diese beruht vor allem auf einem Vertrauensverhältnis zwischen den Forschenden und den Beforschten. Das Schulreifescreening müsste im Vorfeld sowohl von der Ethikkommission der Universität Graz wie auch von der Bildungsdirektion Steiermark geprüft und bewilligt worden sein.

Die Verantwortung für etwaige Schädigungen der "physischen und psychischen Integrität" (Zitat Satzung der Universität Graz) der beforschten Menschen liegt aber letztlich immer bei der Person des Forschers oder der Forscherin. Die Ethikkommission fungiert als Beratungsorgan der Universitätsleitung und hat laut ihrer Satzung keine Befugnis, Eingaben von Personen anzunehmen, die nicht Mitglieder der Universität sind. Möchte man also die forschungsethischen Implikationen eines Projekts kritisieren, wird man höflich darauf hingewiesen, sich an den Forscher zu richten und nicht an jenes Gremium, das die forschungsethischen Implikationen des Projekts im Vorfeld beurteilt und für gut befunden hat.

Freiheit der Forschung

Das mag den Anschein bürokratischer Spitzfindigkeit haben, ist aber auch funktional. Denn Verantwortlichkeit ist eine Voraussetzung jener Vertrauensbeziehung, auf der Sozialforschung aufbaut. Der Forscher ist dabei der Angelpunkt, sowohl in methodologischer wie auch in forschungsethischer Hinsicht. Er – nicht die Ethikkommission – geht mit den beforschten Menschen eine Vertrauensbeziehung ein. Ihm obliegt die Verantwortung, sich im Vorfeld genau und umfassend zu überlegen, welche Risiken auf diese Menschen zukommen.

Diese Verantwortlichkeit gilt doppelt im Bereich der Auftragsforschung: Freiheit der Forschung bedeutet, Auftragsforschung ablehnen zu können, wenn das, was von einem verlangt wird, das Vertrauen der teilnehmenden Subjekte hintergeht. Von dieser Verantwortung entbinden weder die Bescheide von Ethikkommissionen oder sonstigen Einrichtungen noch der Verweis, es handle sich ohnehin nur um eine "Pilotstudie". Letzteres hilft weder den Eltern der frustrierten Kinder noch den Kindern selbst. Vor allem aber gilt für Pilotstudien dasselbe wie für alle Studien im Bereich der Sozialforschung: Sie sind nur dann durchzuführen, wenn im Vorfeld alles getan wurde, um das zu verhindern, was nun offenbar geschehen ist: die Verletzung der psychischen Integrität von Kindern im Vorschulalter. (Christian Dayé, 14.10.2019)