Nicht zu allem Ja und Amen sagen, sondern zu einem kritisch-begründeten Abwägung von Argumenten soll Ethikunterricht befähigen.

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Die Tugend echter Toleranz muss sehr intensiv trainiert werden. Ein Ort dafür ist Ethikunterricht.

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Ein bildungspolitisches Erbe der ÖVP-FPÖ-Regierung ist die ab Herbst 2020 geplante Einführung eines Ethikunterrichts als Pflichtfach ab der 9. Schulstufe, beginnend in AHS und polytechnischen Schulen – aber nur für jene Schülerinnen und Schüler, die keinen Religionsunterricht besuchen. Türkis-Blau hat zwar keinen Gesetzesentwurf mehr geschafft, aber laut der amtierenden Interimsregierung werden alle notwendigen Schritte dafür gesetzt. Damit ginge eine dann 23 Jahre währende Schulversuchsphase zu Ende.

STANDARD: Was halten Sie vom österreichischen Plan, Ethikunterricht nur für jene verpflichtend zu machen, die keinen konfessionellen Religionsunterricht haben?

Tiedemann: Ich finde es grundsätzlich wünschenswert, dass Ethik in Österreich nun breiter eingeführt wird, gleichwohl ist das Modell alles andere als ambitioniert. Meines Erachtens braucht die pluralistische, multikulturelle Gesellschaft ein Pflichtfach Ethik für alle, und wer dann möchte, kann zusätzlich Religion wählen. Denn diese beiden Fächer sind sehr unterschiedlich. Eine ethische oder philosophische Reflexion ist per Definition ergebnisoffen, während eine religiöse Perspektive notwendig an Dogmen gebunden ist.

STANDARD: "Ethikunterricht ist nicht religionsfeindlich", sagen Sie. Viele Kritiker des Ethikunterrichts sagen, genau das ist er.

Tiedemann: Wer sich für Ethikunterricht ausspricht, geht davon aus, dass die wesentliche Grundlage unserer Gesellschaft auf einem gemeinsamen Diskurs beruht, zu dem Menschen unterschiedlichster sozialer Prägung oder religiöser Tradition versammelt werden. Schulunterricht sollte genau das befördern. Das kann er aber nicht, wenn er junge Menschen in unterschiedlichen, kulturell homogenen Schubladen unterbringt. Vor allem gilt ein wichtiger Grundsatz: Die entscheidenden Werte unserer Gesellschaft beruhen nicht auf religiösen Überzeugungen. Die Menschenrechte sind gegen und nicht durch die Religionen erkämpft worden. Das kann gar nicht oft genug betont werden. Der Vatikan hat bis heute die Menschenrechte nicht anerkannt. Insofern darf betont werden: Wenn wir die humanistischen Grundlagen unserer Gesellschaft pflegen wollen, dann sind diese zunächst einmal areligiös. Das heißt nicht, dass man religionsfeindlich ist.

STANDARD: Eine der Befürchtungen der Kritiker eines Ethikunterrichts lautet: Da werden die Schülerinnen und Schüler einfach nur anders, eben nichtreligiös indoktriniert ... quasi Gesinnungsunterricht auf andere Art oder Political Correctness als Schulfach. Was entgegnen Sie diesem Vorwurf?

Tiedemann: Zunächst würde ich sagen: Ja, Sie benennen eine große Gefahr. Das ist die Gefahr, die in jeder Pädagogik steckt, und wir Didaktiker zerbrechen uns darüber den Kopf unter dem Stichwort Wertevermittlungsdilemma. Wie kriegen wir es hin, dass Menschen moralisch wertvolle Grundsätze entwickeln, aber gleichzeitig dem Prinzip des Selbstdenkens und der freien Urteilskraft treu bleiben? Wir können ja nicht sagen: Ich möchte, dass du deine autonome Urteilskraft schulst, aber am Ende musst du ein Vertreter von Menschenrechten, Toleranz und Demokratie sein. Wir können diese Ergebnisse nicht vorgeben ohne die philosophische Essenz des Selbstdenkens zu verraten. Es geht nicht um Wertevermittlung, sondern Werte-Entwicklung, die von Generation zu Generation neu ausgetragen werden muss.

STANDARD: Wie gehen Sie mit diesem Dilemma im Unterricht um?

Tiedemann: Die philosophische Auseinandersetzung hat ein formales Dogma: Argumentiere kohärent, nicht willkürlich. Nur die Argumente werden anerkannt, die von jedem vernunftbegabten Wesen als Argument zumindest nachvollzogen werden können. Was die Pflege der humanistischen Werte angeht, gibt es das Vertrauen auf den zwanglosen Zwang des besseren Arguments nach Jürgen Habermas. Das heißt, in einem freien, rationalen Diskurs, so die – wie ich finde, auch begründete – Hoffnung, werden sich auch die Argumente durchsetzen, die ein starkes Primat für Menschenrechte, Toleranz und Demokratie vertreten.

STANDARD: Sie haben eine Studie über kulturell-religiöse Konflikte in Schulen durchgeführt. Sind sie mehr geworden, welche sind es, und wie sollen Schulen damit umgehen?

Tiedemann: Immer dann, wenn in ein System, hier die Schule, mehr Menschen unterschiedlicher Prägung hineinkommen, steigt die Konflikthäufigkeit. Die Lehrerinnen und Lehrer berichten, dass die Organisation, der Alltag und der Unterricht formal durch mehr Konflikte belastet sind und sie auch inhaltlich vor neuen Orientierungsfragen stehen. Vor 50 Jahren hätte wohl kaum eine Lehrerin oder ein Lehrer über Ernährung bei Schulfesten nachdenken müssen. Heute muss das organisatorisch geklärt werden. Aber auch inhaltliche Fragen wie die Gleichberechtigung der Geschlechter stehen erneut auf der Agenda und müssen neu ausgehandelt werden. Religions- und Kulturkunde sind hier hilfreiche, vielleicht sogar notwendige Bestandteile des Diskurses. Sie sind aber nicht hinreichend, um entsprechende Konflikte zu lösen. Dafür bedarf es des gemeinsamen Ringens um Argumente höherer Ordnung.

STANDARD: Diese Konflikte sind lauter Beispiele, wo Schulen oder die Gesellschaft entscheiden müssen, was tolerieren wir und was nicht. Wie und wo sollen Integrationsgesellschaften da die Grenze ziehen?

Tiedemann: Wir haben eine relativ gut begründete Grenze: die Menschenrechte. Wenn Menschenrechte zur Disposition stehen, haben wir gute Gründe zu sagen: Bis hierher und nicht weiter! Prinzipiell müssen wird uns des Begriffs Toleranz bewusster werden. In der Alltagssprache herrscht ein inflationärer Gebrauch: Wenn du mich gut findest, bist du tolerant. Und wenn du mich nicht gut findest, bist du intolerant. Das hat mit Toleranz nichts zu tun. Tolerare heißt ja erleiden, erdulden. Wir müssen etwas schlecht finden, um überhaupt tolerant sein zu können. Wenn es mir egal ist, bin ich nicht tolerant, und wenn ich es gut finde, auch nicht. Ich muss es ablehnen. Ablehnen und dennoch akzeptieren, das ist die Herausforderung echter Toleranz.

STANDARD: Warum soll ich etwas, das ich schlecht finde, akzeptieren?

Tiedemann: Weil es Argumente höherer Ordnung gibt. Ein Beispiel: Mein Nachbar spielt Trompete, und ich hasse es. Ich finde es schlecht und toleriere es dennoch, weil es Argumente höherer Ordnung gibt: die Freiheit der Lebensgestaltung, Gesetzestreue, Solidarität und so weiter. Oder: Ich mag es nicht, wenn Karikaturen über meinen Propheten gemacht werden. Dennoch toleriere ich es, weil die Rechtfertigung auf Werte wie Meinungs- und Pressefreiheit verweist, die über meine subjektive Empfindung hinausweisen. Deswegen darf ich die Karikaturen nach wie vor ablehnen und schlecht finden. Niemand zwingt mich, sie zu begrüßen, aber solange ich meine Ablehnung nicht selbst mit Argumenten höherer Ordnung rechtfertigen kann, muss ich mich fügen. Rainer Forst nennt dies das Recht und die Pflicht auf allgemeine und reziproke Rechtfertigung. Die Tugend echter Toleranz muss sehr intensiv trainiert werden. Meine Hoffnung ist, dass der Ethikunterricht zum expliziten Ort für dieses Training wird.

STANDARD: Warum ist philosophisch-ethische Bildung "eine wichtige Radikalisierungsprophylaxe", wie Sie sagen?

Tiedemann: Weil mir selbstkritische Reflexion die Endlichkeit meiner eigenen Vernunft vor Augen führt. Ein Beispiel: "Kann Gott einen Stein erschaffen, den er selbst nicht heben kann?" Fragen wie diese setzen einen Reflexionsprozess in Gang, der sich mäßigend auf religiösen Fundamentalismus auswirkt. Wie kann ich blind den Geboten eines angeblich allmächtigen Gottes folgen, wenn ich diese Allmacht nicht einmal widerspruchsfrei denken kann? Ein zweites Beispiel: "Wie kann ich eine politische Bewegung auf den Begriff einer nationalen Identität gründen, wenn ich gleichzeitig nicht in der Lage bin, diesen essenziell oder historisch zu definieren?" Wo meine Rechtfertigungen inkohärent werden, ist für meine Forderungen Bescheidenheit geboten. Das zu verstehen ist eine wirkungsmächtige Dogmatismusprophylaxe. (Lisa Nimmervoll, 14.10.2019)