Denkt skrupulös nach über das Schicksal der gesellschaftlich Abgehängten: der sonst in Hohenems ansässige Autor Michael Köhlmeier in seiner Wiener Wohnung.

Foto: Heribert Corn

Als er 2018 während einer Gedenkveranstaltung des Parlaments die FPÖ wegen ihres Umgangs mit dem Antisemitismus angriff, da rückte Michael Köhlmeiers beliebteste Rolle ein wenig in den Hintergrund: die eines "Märchenerzählers" mit sanfter Stimme. Rechtzeitig vor Köhlmeiers 70. Geburtstag ist jetzt unter anderem sein auf einem Grazer Vortrag basierender Essay Wenn ich wir sage erschienen: eine voltenreiche Abhandlung über die vielen guten Gründe, warum Menschen zueinander finden (sollten).

STANDARD: In Ihrem Essay bemühen Sie den US-Denker Ralph Waldo Emerson. Emerson bezeichnete Freundschaft als ein Verhältnis zwischen Ungleichen, wobei der eine himmelhoch über dem anderen steht. Warum nicht von gleich zu gleich?

Köhlmeier: Der Ausgangspunkt für meinen Essay bestand darin, zum "wir" zu gelangen. Emerson begleitet mich seit vielen Jahren. Was er fordert, steht einer Freundschaft eigentlich entgegen. Es entspricht dem Verhältnis vom Schüler zum Lehrer. Von einem Lehrer erwarte ich, dass er mir die kleine narzisstische Kränkung beibringt, dass ich zu lernen habe, einfach weil ich zu wenig weiß. Einen Lehrer ohne Mehr-Wissen würde ich nie als solchen anerkennen.

STANDARD: Ein Freund ist jemand, der etwas besitzt, was ich nicht habe?

Köhlmeier: Erst wenn ich bemerke, dass er über mir steht, kann ich etwas von ihm lernen. Ich bin immer ungern in die Schule gegangen, Lehrer waren mir häufig unangenehm. Trotzdem habe ich immer nach Über-Vätern gesucht: Figuren wie Montaigne, wie Emerson. Zum einen möchte ich einem Freund auf Augenhöhe begegnen können, ihm verzeihen können, wenn er einen Blödsinn gemacht hat. Zum anderen suche ich immer diese kleine Unterwürfigkeit, die im Schüler steckt.

STANDARD: In Ihrem Essay denken Sie nach über die Offenheit, die der Bildung von Gemeinschaften zugrunde liegt.

Köhlmeier: Ich will keinesfalls belehren. Aber wenn es darum geht zu überlegen, wie man staatsbürgerliches Verhalten regeln soll, ist das "wir" ein zentraler Begriff.

STANDARD: Wir setzen bei der Beurteilung unseres Gegenübers dessen guten Willen voraus. Besteht darin unsere Vorleistung?

Köhlmeier: Wenn ich eine Vorleistung des guten Willens erbringe, begebe ich mich eine Stufe herab. Man kann Emerson missverstehen, meinen, er plädiere für Unterwürfigkeit. Man kann ihn aber auch so verstehen: Ich setze voraus, dass ich unter mündigen, erwachsenen Menschen immer jemandem begegne, der meiner Person auf mindestens einem Gebiet überlegen ist. Wenn ich diese Annahme voraussetze, enthält das eine Aufforderung zum Respekt.

STANDARD: So zu denken ist gesellschaftlich nützlich?

Köhlmeier: Geradezu egoistisch. Ich erkenne im anderen jemanden, der mir bei Bedarf Hilfe leistet.

STANDARD: In Ihrer Parlamentsrede haben Sie den Satz gesprochen: "Verlangen Sie nicht von mir, dass ich mich dumm stelle." Der gute Wille endet dort, wo man uns einen Bären aufbindet.

Köhlmeier: Wenn ich als aufgeklärter Staatsbürger jedem anderen zugutehalte, ich könne von ihm etwas lernen, dann setze ich ebenso voraus, dass er mich nicht für dümmer hält, als ich bin. Auch ich will mich nicht dümmer stellen müssen, als ich bin. Und sei es nur aus Rücksicht.

STANDARD: In Ihrer Rede sprachen Sie die "Einzelfälle" im Dunstkreis der FPÖ an.

Köhlmeier: Ich weiß ja, bei solch einer Rede wird etwas Staatstragendes erwartet. Man muss Sachen von sich geben wie: "Nie wieder…!" Ich hätte einen roten Kopf bekommen, wenn ich so etwas gesagt hätte.

STANDARD: Sie haben die Gudenus'sche Prägung von den "stichhaltigen Gerüchten" als Eintrag für ein "Wörterbuch der Niedertracht" empfohlen. Ist es wieder notwendig, ein solches Buch anzulegen?

Köhlmeier: Ich wollte einmal eine Schrift verfassen mit dem Titel: "Unser täglich’ Verbot". Darin wären alle Dinge gestanden, die den Unmut gegen die sogenannten Eliten wecken. Karl Lagerfeld hat einmal gesagt, wer in Trainingshosen auf die Straße geht, habe die Kontrolle über sein Leben verloren. Es wird den Leuten unentwegt suggeriert: Das darfst du nicht, und jenes auch nicht! Was passiert, wenn du es dennoch tust? Du wirst vom Common Sense ausgeschlossen. Du gehörst nicht zum Establishment und bleibst außen vor.

STANDARD: Die Folge?

Köhlmeier: Es passiert jedes Mal eine narzisstische Kränkung. Du lässt dir ein Arschgeweih tätowieren? Du isst Shrimps mit der Gabel? Alle diese Dinge summieren sich zu einer Masse von Demütigungen. Dann wundert sich die Politik, wie belehrungsresistent der sogenannte Pöbel ist. Wenn Donald Trump von sich sagt, er könne auf der Fifth Avenue jemanden erschießen und werde deshalb keine einzige Stimme verlieren, dann sagen die Leute: "Der ist einer von uns! Auch ihm wurde unausgesetzt gesagt, dass er dumm sei, nicht essen könne usw. Wir bleiben beim ihm und werden immer zu ihm halten." H.C. Strache hat das Ibiza-Video zunächst auch nicht geschadet.

STANDARD: Wir erzeugen inferiore Menschen, andererseits verhalten wir uns aber konformistisch?

Köhlmeier: In einer religiösen Gesellschaft lautete die Sanktion: "Du kommst in die Hölle, oder wenigstens ins Fegefeuer!" Die Sanktion heute ist: Du wirst ausgeschlossen aus dem Kreis derjenigen, die nennenswert sind. Zu denen zu gehören, die nicht genannt werden, ist ungemein bitter. Das löst bei den Betroffenen die Empfindung aus: Dann soll doch die ganze Welt abbrennen! Kränkung ist der Begriff der Stunde.

STANDARD: Viele Menschen sind diffus gekränkt?

Köhlmeier: "Diffus" ist besonders schlimm. Dann habe ich nämlich niemanden, dem ich die Faust ins Gesicht hauen kann. "Die Gesellschaft kränkt mich!" Was soll man sich unter einem solchen Gebilde vorstellen? Da adressiere ich lieber die Fremden, die Asylwerber. Dann habe ich Schuldige. Endlich wird aus der diffusen Kränkung eine konkrete. Lieber eine falsche Konkretisierung als gar keine! Stermann und Grissemann haben einmal gesagt: "Das ganze Programm der FPÖ ist in Strache enthalten. Samt Rache." Das fand ich zutreffend. (Ronald Pohl, 15.10.2019)